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Round-Table-Gespräch zu Industrie 4.0: Wettbewerbsfähig produzieren

Gesucht wird: eine Sprache für Fertigungsanweisungen
Round-Table-Gespräch zu Industrie 4.0: Wettbewerbsfähig produzieren

Industrie 4.0 – selten gibt es Schlagwörter, die so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zu Recht, denn es geht um die Produktionstechnik von morgen. Im Round-Table-Gespräch der elektro Automation wurde klar, dass Industrie 4.0 von der Allgegenwärtigkeit der Informationen lebt sowie dem Schulterschluss von IT- und Automatisierungstechnik. Eine der Herausforderungen ist es, eine gemeinsame Sprache für Fertigungsanweisungen zu entwickeln, auf deren Basis Produktionsanlagen flexibel einsetzbar sind – bis hinab zur Losgröße Eins. Klar ist auch, dass Industrie 4.0 Ländergrenzen überwinden muss – und dass noch einige Jahre an Entwicklungsarbeit vor uns liegen.

Das Round-Table-Gespräch wurde von den Redakteuren der elektro Automation, Andreas Gees und Michael Corban, geleitet.

elektro Automation: Die Komplexität von Produkten und Fertigungsverfahren beziehungsweise -abläufen nimmt zu, gleichzeitig sollen kundenindividuelle Wünsche bis hinab zur Losgröße Eins realisierbar sein. Damit ist zu erwarten, dass Steuerungsarchitekturen, die an zentraler Stelle Prozesse verwalten, in Schwierigkeiten kommen – Industrie 4.0 will hier Abhilfe schaffen. Zieht man eine Analogie zu einer großen Stadt mit ihren Bewohnern und der Infrastruktur, spielt die Intelligenz der Bewohner eine entscheidende Rolle. Liegt die Lösung für die Industrie also darin, Produkte ‚intelligent‘ zu machen?
Zühlke (DFKI): Ja – auch wenn ich nicht von intelligenten Produkten reden würde, smarte Produkte trifft es besser. Die Probleme mit einer zentralen Steuerung lassen sich leichter lösen, wenn es gelingt, mehr Autonomie in den unteren Steuerungsebenen zu erreichen. Der Vorteil ist, dass dann nicht mehr alle Abläufe in der zentralen Steuerung vorgedacht werden müssen. Bei unerwarteten Ereignissen kann also bereits auf den darunter liegenden Ebenen entschieden werden, wie am besten darauf zu reagieren ist.
Santos (Balluff): Das eröffnet uns zudem den Schritt weg von einzelnen Wertschöpfungsketten hin zu Wertschöpfungsnetzwerken. Das bietet ein enormes Potenzial – insbesondere in der Logistik.
Bent (Phoenix Contact): Um Komplexität zu beherrschen, muss diese heruntergebrochen werden – autonome Teilsysteme, die für sich selbst Entscheidungen treffen können und mit ihrer Umgebung interagieren, sind dabei ein wesentliches Element. Damit lässt sich der Vergleich sogar noch weiter ziehen: In der Stadt bewegen sich nicht nur ‚intelligente‘ Menschen, auch die Infrastruktur ist ‚intelligent‘ – beispielsweise Verkehrs- oder Energieversorgungssysteme, die mit den Menschen interagieren. Übertragen auf Industrie 4.0 führt dies zu einem intelligenten Produktionsumfeld, in dem Betriebsmittel sowie Logistik- und Geschäftsprozesse über eine ausreichende Teilintelligenz verfügen, um sich sinnvoll miteinander zu vernetzen – und entsprechend den Bedürfnissen konfigurieren.
Sandhöfner (B&R): Diese Vernetzung zu ermöglichen, ist die große Herausforderung bei der Umsetzung von Industrie 4.0. Verdeutlichen lässt sich das am Beispiel der Navigation im Straßenverkehr: Moderne Systeme werden künftig über die Erfassung der Mobilfunksignale der Verkehrsteilnehmer – und damit Positions- und Geschwindigkeitsdaten – die adaptive Ermittlung der besten Route ermöglichen. In der Automatisierung arbeiten wir bereits an Vergleichbarem, wozu die beteiligten Systeme miteinander kommunizieren müssen – mit dem Ziel, es dem Anwender so einfach wie möglich zu machen, seine Produktion zu steuern.
Hoppe (Beckhoff Automation): Die Analogie zur Stadt erlaubt allerdings auch andere Interpretationen. In ihr bewegen sich natürlich viele Individuen – aber ohne ein Mindestmaß an vorheriger Planung und Bereitstellung der Infrastruktur führt das nur zu den bekannten Problemen der Megacities. Etwa dazu, dass sie im Verkehr ertrinken; hier funktionieren selbstregelnde Prozesse nicht gut und die Freiheit des Einzelnen besteht dann darin, mit dem existierenden Missstand so gut es geht zurechtzukommen. Gleichwohl ist in diesem Fall ein Navigationssystem ein klassisches Beispiel dafür, dem Anwender softwaregestützt situativ die beste Lösung anzubieten – in Teilansätzen sind solche Ansätze auch schon in Produktionsanlagen verwirklicht.
 
elektro Automation: Vorauszusetzen ist natürlich in jedem Fall eine Produktionsanlage, mit der sich die gestellte Aufgabe auch lösen lässt – hinsichtlich des Verkehrs ist das ja typischerweise in einer Megacity nicht gegeben. Wenn es zudem Umsetzungen in Teilen schon gibt, was bringt uns Industrie 4.0 an Neuem?
Hoppe (Beckhoff Automation): Industrie 4.0 beschreibt keine revolutionäre, ganz andere Art der Produktionstechnik – sondern das Grundwesen dieses Ansatzes besteht in der Allgegenwärtigkeit von Informationen. In klassischen Systemen wird ja in strikten Produktionshierarchien von oben nach unten geplant und ausgeführt. Fehlende Informationen aus den untersten Produktionsebenen bringen darin das übergeordnete Planungssystem in Schwierigkeiten. Die Anwendung der Smart-Technologien – und damit der Informationsaustausch zwischen den beteiligten Systemen – soll es also ermöglichen, situativ zu reagieren. Der Einsatz smarter Produkte ist dabei nur ein mögliches Szenario. Entscheidend wird die Einbettung in bestehende Systeme sein. Es wird also eine Evolution geben hin zu intelligenteren und damit autonomeren Teilsystemen – das kann eine Vorrichtung innerhalb einer Maschine sein, die Maschine selbst oder auch eine ganze Fertigungslinie oder Halle. In allen diesen Einheiten müssen wir diese Smart-Technologien denken und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Nicht zuletzt können wir auf diese Weise auch ressourcenschonender produzieren.
Bent (Phoenix Contact): Man wird darüber hinaus auch den Begriff des ‚intelligenten‘ Produktes genereller fassen müssen: Eine wesentliche Zäsur wird sein, dass das Produkt künftig über seinen gesamten Lebenszyklus Teil der Prozesse des Gesamtsystems wird. Schon mit seiner digitalen Entwicklung im CAD-System werden bereits Daten erzeugt, die sich dazu verwenden lassen, die entsprechenden Produktionsmittel zu entwickeln, zu simulieren und zu testen. Auf diese Weise wird parallel zur physischen Welt die Datenwelt immer weiter ausgebaut. Ein komplexeres Produkt wird also eine Art digitales Gedächtnis haben, das über den Lebenszyklus hinweg Zugriff auf eine Reihe von Informationen bietet. Abstrakt gesprochen finden wir diese Daten dann in der Cloud.
 
elektro Automation: Speziell aus der Logistik kennen wir ja bereits erste Umsetzungen unter dem Stichwort ‚Internet der Dinge‘, beispielsweise Förderanlagen, in denen Shuttles Wegstrecken selbst erkunden und mit Hilfe von Agentensystemen sich selbst organisieren. In Industrie-4.0-Konzepten entsteht also die ‚Intelligenz‘ aus der Vernetzung aller Teilsysteme und dem Zugriff auf möglichst viele Informationen…
Zühlke (DFKI): …die jetzt online verfügbar und damit nutzbar sind – das ist genau der Punkt. Ein Stau in einer Fertigungslinie lässt sich auf diese Weise zunächst einmal umfahren, ohne direkt zu Folgeproblemen zu führen. Entscheidend ist dabei, dass wir die insgesamt wachsende Komplexität wieder reduzieren können – denn mit komplexen Prozessen kann der Mensch schlecht umgehen. In der Automatisierung führt dies allerdings dazu, dass sich zwar die Komplexität für den Anwender reduziert, die für die Automatisierungsingenieure aber steigt. Beides müssen wir zusammenbringen, in dem wir weniger komplexe Subsysteme schaffen.
Gutekunst (Balluff): Man kann es auch umdrehen: Gerade bezüglich des Zugriffs auf möglichst viele Informationen müssen wir über neue Konzepte nachdenken – wie Industrie 4.0. Die Datenflut bei uns im Unternehmen ist bereits jetzt so immens groß geworden, dass wir Wege suchen, sie zu kanalisieren und wertschöpfend zu nutzen. Das fängt bei der Sensorik an – ein entscheidender Baustein ist an dieser Stelle die Identifikation, insbesondere per RFID – und reicht über die interpretativen Systeme bis hin zu fabrik- und unternehmensübergreifenden Konzepten. Mithin zu der Frage, wie wir selbst unsere Lieferanten steuern – beziehungsweise unser Kunde uns als Lieferant. Daraus können ganz neue Geschäftsmodelle entstehen.
 
elektro Automation: Um diese neuen Modelle zu realisieren, ist dann aber wie erwähnt die Reduzierung der Komplexität der Subsysteme ein Schlüssel zur erfolgreichen Nutzung von Industrie 4.0. Und um den Anwender zu entlasten, trifft das vor allem die Entwickler von Automatisierungssystemen. In welcher Weise kann hier der ebenfalls bereits genannte Zugriff auf die CAD-Daten von Nutzen sein?
Hoppe (Beckhoff Automation): Die Daten im CAD-System werden heute noch zu wenig genutzt. Klassisch ist etwa das Beispiel Hochregallager: Vor dessen Bau wird der Durchsatz simuliert und auf dieser Basis die Investitionsentscheidung gefällt. Nicht abgeleitet wird daraus aber die Bewegungssteuerung für die einzelnen Bediengeräte, obwohl die dynamischen Abläufe ja bereits vorgedacht sind. Vielmehr erhält derzeit noch ein Automatisierer die Aufgabe, in einem ganz anderen Engineering-Tool die Bewegungssteuerung für einzelne Shuttles zu programmieren. Dieser Bruch ist unsinnig – sinnvoller wäre es, dafür ebenfalls die Daten aus der Simulation zu nutzen. Wir haben dafür den Begriff ‚Zero Engineering‘ geprägt, über den sich auch bestimmte Engineering-Abläufe automatisieren lassen. Die brillante Idee von Industrie 4.0 ist also, die Vernetzung nicht nur auf den Hersteller einer Ware oder die Produktionstechnik zu beschränken, sondern auch die bislang sehr stark gegeneinander abgegrenzten Domänen des Engineerings zu verschmelzen.
Sandhöfner (B&R): Ziel muss es sein, Produkte auch in der Losgröße Eins fertigen zu können. Das gelingt heute nur in Teilbereichen, weil die Produktionsanlagen dafür nicht ausgelegt sind. Diese müssen also flexibler gestaltet werden – nicht nur hinsichtlich kleinerer Losgrößen, sondern insbesondere auch für Losgröße Eins. Passen wir dazu unsere Engineering-Abläufe nicht an, schlägt sich das aber in einer Explosion des Steuerungscodes nieder – was wir uns nicht leisten können, weil das sowohl Entwicklungszeit als auch -kosten nach oben treibt. Gefragt sind damit intelligente Konzepte, in denen sich bestehender Code wiederverwenden lässt und in denen Schnittstellen zwischen den Entwicklungstools das Schreiben von Code vereinfachen und beschleunigen. Erste Schritte sind ja bereits gemacht, Informationen aus Simulationssystemen heraus direkt in echtzeitfähigen Code zu verwandeln. Das reduziert dann wiederum die Komplexität nicht nur der Maschine selbst, sondern auch die ihrer Entstehung.
 
elektro Automation: Ist das dann nicht die Wiederkehr des CIM-Gedankens, des Computer Integrated Manufacturings?
Sandhöfner (B&R): Ja und nein, denn bei der CIM-Diskussion vor 20 Jahren ging man von einer zentralen Steuerung aus, die bereits vorgedacht und entsprechend strukturiert ist. Außer Acht gelassen wurde dabei, dass Störungen auftreten können und hinsichtlich der Losgröße sprach man eher von hohen Stückzahlen. Diese Aspekte greift aber Industrie 4.0 auf, was nicht zuletzt hinsichtlich der Offenheit der beteiligten Systeme wesentlich höhere Anforderungen stellt.
Bent (Phoenix Contact): CIM ist damals gescheitert, weil die technischen Mittel nicht bereitstanden und die Komplexität zu hoch war. Entstanden ist daraus aber auch unsere heutige Automatisierungspyramide mit ihrer hierarchischen Struktur. Industrie 4.0 verlässt diese Struktur komplett – es gibt keine Hierarchie in einer Industrie-4.0-Automatisierungs- oder -Kommunikationswelt, was wiederum eine Grundvoraussetzung für den Aufbau flexibler und adaptiver Systeme ist. Sobald eine Hierarchie vorliegt, muss ich ein System vordenken – und sobald ich das mache, komme ich nicht über die Grenzen meines heutigen Wissens hinaus. Ich kann nur das planen, was ich heute weiß – und genau diese Beschränkung will Industrie 4.0 ja überspringen. Wir wollen ja zu Systemen kommen, die zukünftig etwas leisten können, was wir heute noch nicht vorgedacht haben. So entstehen Produktionssysteme, die in der Lage sein werden, sich an zukünftige, heute noch unbekannte Anforderungen – auch in Bezug auf die zu produzierenden Produkte und Varianten – zu adaptieren.
Gutekunst (Balluff): Was bei CIM fehlte, war der Rückwärtspfad – konnte auf einer unteren Ebene etwas nicht gelöst werden, konnte es die Steuerung darüber auch nicht. Es fehlte der wichtige Aspekt der Autonomie, der Industrie-4.0-Konzepte kennzeichnet.
Hoppe (Beckhoff Automation): Der CIM-Gedanke hat allerdings dazu geführt, dass in der Werkzeugmaschinenindustrie bereits eine integrierte homogene Umgebung existiert. Basierend auf den CAD-Daten eines Produktes kann über den daraus abgeleiteten NC-Datensatz dessen Entstehung vollautomatisch ablaufen. Diesen Gedanken müssen wir in der Industrie 4.0 aufnehmen und weiterentwickeln.
 
elektro Automation: Was muss dazu mit Blick etwa auf Montageprozesse getan werden?
Hoppe (Beckhoff Automation): Wir müssen eine Metasprache entwickeln – eine Taxonomie und Ontologie beziehungsweise eine Begriffswelt –, die es erlaubt, die Herstellung eines Produktes so zu beschreiben, dass sich diese Informationen weltweit an vielen verschiedenen Maschinen nutzen lassen. Das gibt es in dieser Form noch nicht, auch wenn es in Teilbereichen beziehungsweise Branchen bereits Industrie-4.0-Inseln gibt. Dann lässt sich auch die Stückzahl Eins realisieren, ohne dass man dazu zunächst einen komplexen Engineering-Prozess aufsetzen muss.
 
elektro Automation: Damit nähern wir uns dann aber wieder dem eingangs erwähnten ‚smarten‘ Produkt, dem ich über die digitale Entwicklung analog zum NC-Code bereits sämtliche Informationen mitgebe, wie es zu fertigen ist…
Hoppe (Beckhoff Automation): …was aber nur funktioniert, wenn die Fertigungsmaschinen beziehungsweise -anlagen das auch verstehen! An welcher Stelle die Fertigungshinweise liegen, spielt keine Rolle – wichtig ist, dass der Produktionsvorgang so beschrieben ist, dass die jeweils vorhandenen Maschinen und Anlagen daraus selbstständig und autonom die notwendigen Schritte extrahieren können. Derzeit gibt es dazu keine einheitliche Taxonomie – im Rahmen der Umsetzung von Industrie 4.0 müssen wir diese aber entwickeln.
Sandhöfner (B&R): Das Ziel von Industrie 4.0 beinhaltet auf diese Weise die Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Wegen – zwischen Prozessen unterschiedlicher Anbieter – wählen zu können. Das setzt einheitliche Daten voraus, die innerhalb der gesamten Prozesskette verstanden werden.
Zühlke (DFKI): Hier fehlen uns in der Tat derzeit sowohl eine Referenzarchitektur als auch wissenschaftliche Begrifflichkeiten für viele Dinge. Rede ich beispielsweise mit Kollegen aus der Informatik, finden sich dort teilweise völlig andere Begrifflichkeiten als in der Produktionstechnik. Hier sind wir alle gefordert, zusammenzukommen, wobei wir erst am Anfang stehen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind hier noch extrem viele Aufgaben zu lösen, was meiner Meinung nach auch noch nicht in zwei oder drei Jahren abgeschlossen ist – wir reden hier über eine Vision.
 
elektro Automation: Was sind denn die nächsten Schritte, die vorrangig angegangen werden müssen?
Zühlke (DFKI): Die neue Welt wird nur funktionieren, wenn wir Standards schaffen! Nur so werden die Komponenten einer Produktionsumgebung wie Lego-Bausteine per Plug&Play zueinander passen. Ein zweiter, wesentlicher Aspekt betrifft hinsichtlich der erforderlichen offenen Netzwerke das Thema Sicherheit – im Englischen die Security. Denn die beteiligten Unternehmen werden sich natürlich fragen, ob sie ihre Informationen in solch einen Legostein legen sollen und was damit passiert. Nur auf diese Weise lässt sich allerdings eine Plug&Play-Fertigung modular aufbauen. Ganz wichtig ist, dass wir hier schnell erste greifbare Ergebnisse zeigen können. Bereits zur Hannover Messe 2014 wollen wir dazu als DFKI mit Industriepartnern eine Modellanlage realisieren. Denn nur so lässt sich zeigen, dass Industrie 4.0 keine ‚Blase‘ ist, sondern vielmehr eine langfristige Strategie für die Produktionstechnik. Überwunden werden muss dazu auch der bereits thematisierte Bruch bei der Verbindung von virtueller und realer Welt. Unsere Kollegen im Bereich des Product Lifecycle Managements nutzen ja bereits wunderbare Objektwelten, in denen sich Parameter verändern lassen. Geht es aber in an den realen Betrieb, muss wieder eine SPS programmiert werden – das darf nicht sein!
Bent (Phoenix Contact): Automatisierungs- und IKT-Welt müssen eine gemeinsame Sprache finden – das ist die große Chance, die hinter Industrie 4.0 steckt. Denn industriebranchenübergreifend ist hier ja ein Konsens entstanden, eine gemeinsame Vision, die keiner alleine umsetzen kann. Aufgabe der von Bitkom, VDMA und ZVEI gegründeten Plattform Industrie 4.0 ist es deshalb, gemeinsam an der Umsetzung zu arbeiten.
Santos (Balluff): Nur so werden wir auch in der Lage sein, die vielen, bereits heute gespeicherten Informationen sinnvoll zu nutzen. Denn bislang greifen wir Vergleichbares nur in Teilbereichen beziehungsweise punktuell bezogen auf bestimmte Aufgabenstellungen auf. Industrie 4.0 muss uns dabei helfen, all diese Informationen sinnvoll zu nutzen – im Sinne der eingangs erwähnten Wertschöpfungsnetzwerke. Und an der Unternehmensgrenze darf diese Vernetzung nicht aufhören.
 
elektro Automation: Um die Ziele von Industrie 4.0 zu erreichen, müssen wir uns also sowohl um eine standardisierte Beschreibung von Fertigungsprozessen kümmern als auch sicherstellen, dass Aspekte der Security beachtet werden. Da wir von einer Ethernet-basierenden Vernetzung ausgehen können, müsste an dieser Stelle doch OPC-UA als Protokoll einige Aufgaben übernehmen können?
Hoppe (Beckhoff Automation): Exakt das kann OPC-UA leisten. Dazu lohnt es, sich kurz die Historie ins Gedächtnis zu rufen. Wurden in der ersten Phase der Maschinen- und Produktionsautomatisierung noch Informationen mit Hilfe eines Kabels übertragen, folgten anschließend serielle Verbindungen. Dafür war ein Datenformat erforderlich, was zu vielen proprietären seriellen Protokoll-Varianten führte. Die Standardisierung begann dann mit den Feldbus-Systemen – insbesondere CAN ist hier als Vorreiter zu nennen. Hier wurden bereits Profile definiert, auf Basis derer sich Geräte erkennen lassen und die Bedeutung der Daten interpretieren lässt. Mit OPC-UA erfolgte dann sehr früh der Schritt hin zu einem Protokoll, das auch eine semantische Beschreibung ermöglicht – und darauf wollen wir ja hinaus. OPC-UA bietet sich deshalb mit der fortschreitenden Verbreitung der Ethernet-basierenden Kommunikation als ein elementarer Baustein für die Implementierung von Industrie 4.0 an.
Sandhöfner (B&R): Ein großer Vorteil von OPC-UA ist zudem, dass dort keine hohen Anforderungen an die Hardware gestellt werden – es ist also nicht notwendig, immer leistungsstarke PC-Prozessoren einzusetzen. Das ist schließlich eine der Voraussetzungen, um einen breiten Einsatz von OPC-UA zu fördern, insbesondere auch in kleineren Einheiten.
Zühlke (DFKI): Entsprechend dem OSI-Modell als Referenzmodell bietet OPC-UA für die Schichten 5 und 6 – also bezüglich Sitzung und Darstellung – im Moment den umfassendsten Dienst an. Ein Nachteil ist aber, dass OPC-UA derzeit sehr komplex ist – sowohl bezüglich der Struktur als auch der Laufzeitbedingungen. Zudem liegen die Schwierigkeiten insbesondere in der Schicht 7, also der Anwendungsschicht. An dieser Stelle müssen die Applikationen vernünftig miteinander kommunizieren und Dienste austauschen können, die zuvor in irgendeiner Form standardisiert worden sind. Hier sehe ich zwar schon Ansätze, aber noch keine Lösungen.
 
elektro Automation: Wie könnten denn Lösungsansätze für die Schicht 7 aussehen, um auch Applikationen miteinander zu verbinden?
Zühlke (DFKI): An diesen Aufgabenstellungen arbeiten derzeit einige Arbeitsgruppen. Dabei landen wir zwangsläufig wieder bei der Frage der Semantik, der Metasprache, um Fertigungsprozesse beschreiben zu können. Das Schlimmste, was uns an dieser Stelle passieren kann, ist, dass etwa jeder Sensorhersteller einen eigenen Dienst für eine bestimmte Aufgabe definiert – gefordert ist hier also eine gewisse Standardisierung.
Sandhöfner (B&R): Hinsichtlich der Semantik werden zudem neben allgemeinen auch branchenspezifische Lösungen zu erarbeiten sein, wie wir sie teilweise schon kennen – etwa in Form der Weihenstephaner Standards in der Getränkeabfüllung. Auf diese Weise lassen sich branchenspezifische Maschinengegebenheiten, Anlagenbedingungen und -zustände abdecken.
Bent (Phoenix Contact): Innerhalb der Plattform Industrie 4.0 etabliert sich gerade eine Arbeitsgruppe mit dem Ziel, eine Referenzarchitektur zu schaffen und Standardisierung sowie Normung voranzutreiben. Da verschiedenste Applikationen miteinander kommunizieren müssen, liegt noch viel Grundlagenarbeit vor den Beteiligten. Entscheidend ist aber, dass eine Institution geschaffen wurde, in der sich die Entwicklungen synchronisieren und harmonisieren lassen.
Hoppe (Beckhoff Automation): Wir werden eine Entwicklung sehen weg von Datenstrukturen und Profilen hin zu dienstebasierenden Kommunikationsverfahren. Solche Dienste beschreiben dann beispielsweise die Möglichkeit, abzufragen, welche Informationsmöglichkeiten ein Aggregat, ein Sensor oder eine Steuerung bietet. Dieses Browsen, über das sich ein Dienst anstoßen lässt, führt dann dazu, dass man über verschiedene Industrien mit unterschiedlichen Ausprägungen hinweg viele Gemeinsamkeiten findet. Letztlich können sich auf diesem Weg über Unternehmens- und Ländergrenzen hinweg Maschinenaggregate und Anlagen zusammenschalten lassen – eine der brillanten Ideen hinter Industrie 4.0. In Deutschland können wir dabei auf dem bestehenden hervorragenden Produktionsniveau aufbauen, das wir haben und damit als Vorstufe für Industrie 4.0 sehen können.
 
elektro Automation: Welche Bedeutung hat abschließend angesichts der vielen autonomen Abläufe in Industrie-4.0-Konzepten die Frage, in welcher Form der Mensch dies überblicken und gegebenenfalls eingreifen kann? Welche Rolle können hier MES-Lösungen spielen?
Zühlke (DFKI): Hier sollten wir nicht den Fehler aus CIM-Zeiten wiederholen, von menschenleeren Fabriken zu sprechen. Wir brauchen den Menschen, er ist der einzige wirklich intelligente Partner – ihn durch Vollautomatisierung ersetzen zu wollen, wäre völliger Unsinn. Sollte etwas schief laufen, kann kein Algorithmus das Problem lösen; wir können die Intelligenz des Menschen nicht ersetzen.
Bent (Phoenix Contact): MES-Systeme werden eine ganz zentrale Rolle in der Industrie 4.0 oder auf dem Weg dahin spielen. Denn über sie lassen sich die relevanten Daten aus einem Produktionsprozess der dienstorientierten Middleware kontextbezogen bereitstellen – und darauf kommt es an. Der Anwender muss darüber genau die Informationen erhalten, die er in der spezifischen Situation, die sein Eingreifen erfordert, auch benötigt.
 
elektro Automation: Der Diskussionsstoff rund um das Thema Industrie 4.0 wird uns also so schnell nicht ausgehen, die weitere Entwicklung bleibt spannend. Wir danken allen Teilnehmern für dieses Round-Table-Gespräch. co
 
 
„Wir sind als Automatisierungsanbieter ja nicht nur Enabler für Industrie 4.0, als Anwender treibt uns das Thema auch selbst sehr stark. Unser Ziel ist es, den Produktionsstandort Deutschland wettbewerbsfähig zu halten – insbesondere auch hinsichtlich einer sehr variantenreichen Fertigung – zu den Kosten eines Massenproduktes. Industrie 4.0 wird uns hier mehr Flexibilität bringen, eine höhere Verfügbarkeit der Maschinen und mehr Schnelligkeit, um auf die Anforderungen unserer Kunden zu reagieren.“
„Der Anwender wird in seinen Systemen eine wesentlich größere Flexibilität und Agilität bekommen – und damit auch die vom Markt geforderten immer kürzeren Lebenszyklen realisieren können. Industrie 4.0 liefert ihm dazu einen Baukasten, aus dem sich Fertigungsanlagen viel schneller zusammenstellen lassen.“
„Dem Verbraucher öffnet sich über Industrie 4.0 eine individuell auf ihn zugeschnittene Konsumwelt. Für den Maschinenbauer, der das ermöglichen will, spielt dabei die Wiederverwendbarkeit von Steuerungscode eine entscheidende Rolle, um die gewünschten Maschinenfunktionen einfach und schnell realisieren zu können. Die Durchgängigkeit der Systeme und eine offene Kommunikation sind dazu Voraussetzungen.“
„Industrie 4.0 ist ein Ansatz, basierend auf der Verschmelzung mit IT-Mechanismen, -Methoden und -Technologien die nächsten Entwicklungsschritte in der Automatisierungstechnik zu machen. Dies ermöglicht uns ein integriertes und einfacheres Engineering – ein wesentlicher Vorteil bei der automatisierten Zusammenstellung und Interaktion von Maschinen, Aggregaten und Anlagen. Damit können wir Produkte sehr schnell in den Markt bringen – auch mit Losgröße Eins – und dabei weltweit mit Partnern, Lieferanten und Kunden interagieren.“
„Die auch weltweit steigenden Bedürfnisse erfordern produktions- und logistikseitig ein erheblich reaktiveres System. Industrie 4.0 ist darauf ausgerichtet, diesen Anforderungen zu begegnen, die uns die Bedürfnisse des Marktes von Morgen stellen.“

Die Teilnehmer des Round-Table-Gesprächs
    • Roland Bent, Geschäftsführer Marketing und Entwicklung, Phoenix Contact GmbH & Co. KG
    • Jürgen Gutekunst, Geschäftsbereichsleiter Networking/Systeme, Balluff GmbH
    • Gerd Hoppe, Corporate Management, Beckhoff Automation GmbH
    • Markus Sandhöfner, Geschäftsleitung, B&R Industrie-Elektronik GmbH
    • Hondo Santos, Director Logistics, Balluff GmbH
    • Prof. Detlef Zühlke, Forschungsbereich Innovative Fabriksysteme, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI)

INFO-TIPP
Anlässlich der Hannover Messe 2013 wurde seitens der drei Verbände Bitkom, VDMA und ZVEI gemeinsam die Plattform Industrie 4.0 gegründet. Ziel ist es, durch die Zusammenarbeit die Entwicklungen rund um die Industrie-4.0-Thematik zu koordinieren und zu kommunizieren:

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