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Industrie 4.0 beginnt mit kleinen Schritten

2. Roundtable Industrie 4.0 2016
Industrie 4.0 beginnt mit kleinen Schritten

Komplette Wertschöpfungsketten bis hinein in die Nutzung moderner Produkte oder Maschinen sind nun viel stärker in den Fokus der Industrie-4.0-Diskussionen getreten. Die Digitalisierung bietet damit vor allem die Chance zur Realisierung neuer Geschäftsmodelle, wie die Teilnehmer des 2. Roundtables Industrie 4.0 von elektro AUTOMATION und Industrieanzeiger betonen. Weiter bleibt es eine wichtige Aufgabe, die Standardisierung kontinentübergreifend voranzubringen – bis hin zu echtzeitfähiger Ethernet-Kommunikation.

Moderation: Nora Nuissl, Industrieanzeiger; Andreas Gees und Michael Corban, elektro AUTOMATION

elektro AUTOMATION: Sehr geehrte Teilnehmer, eine Erkenntnis unseres ersten Roundtables 2013 war, dass sich mit Industrie 4.0 Fertigungseinrichtungen flexibel nutzen lassen und dass sich diese situationsabhängig anpassen können, sprich adaptiv sind. Hat sich diese Perspektive inzwischen verändert?
Dumitrescu (Fraunhofer IEM): Sie ist immer noch ein wichtiger Bestandteil, aber das Thema Industrie 4.0 hat sich schon weiterentwickelt. Neben der Fertigung sind jetzt auch weitere Prozesse in den Unternehmen in den Blick gekommen, die durch digitale Technologien effizienter werden können – auch die Forschungsarbeiten gehen inzwischen über die Produktionsmaschine oder den Produktionsverbund hinaus. Es geht darum, die gesamte Wertschöpfungskette zu digitalisieren, vom Entwurf bis zur Fertigung und darüber hinausgehend auch bis hin zu intelligenten Servicekonzepten, bei denen wir Daten der Produkte im Feld sammeln und nutzen.
Kalhoff (Phoenix Contact): Das kann ich nur bestätigen, denn in der letzten Zeit haben wir sehr stark über die horizontale und vertikale Kommunikation gesprochen – und damit kommen wir automatisch zu Prozessketten. Die Produktion an sich hat ja einen Vorprozess sowie einen Nachprozess, die Produkte selbst werden verwendet und es ergeben sich Möglichkeiten für Dienstleistungen – die Digitalisierung bildet hier das Bindeglied zwischen all diesen Prozessen. Ein gutes Beispiel ist die Engineering-Kette, in der sehr viele Informationen zusammenfließen bis hin zum Produktionssystem. An dieser Stelle sieht man schnell, dass es einfach zu klein gedacht ist, nur an die Produktion zu denken. Unsere ganzen Aktivitäten zielen deshalb darauf ab, zu erkunden, wie sich die verfügbaren Daten verwenden lassen – wie man damit eine Wertschöpfung entlang der Datennutzung vom Zulieferer über die Produktentstehung, die Produktion und die Produktverwendung erzielen kann, wie sich neue Geschäftsmodelle für unser Unternehmen, aber auch bei unseren Kunden umsetzen lassen.
Glaser (Pilz): Das Thema Industrie 4.0 ist in der Wertschöpfungskette der Automatisierungsindustrie angekommen. Vor rund vier Jahren begann alles mit einer Initiative der Bundesregierung und war zunächst sehr auf die Forschung ausgerichtet. Heute wird verstärkt die Frage nach der Anwendbarkeit gestellt, zunehmend auch im internationalen Rahmen. Deswegen gehen Unternehmen wie auch wir selbst inzwischen dazu über, das Thema auch in den eigenen Fabriken viel stärker zu implementieren, um Erfahrungen der Anwendbarkeit zu sammeln – mit all ihren Facetten vom erwähnten Themenkomplex des Engineerings bis hin zu Instandhaltungskonzepten oder der Datenanalyse im Sinne der vorbeugenden Wartung – wir sprechen vom gesamten Product Lifecycle Management.
elektro AUTOMATION: Wie international wird das Thema inzwischen gespielt? Wie sieht das aus Sicht von Mitsubishi Electric mit Sitz in Japan aus?
Lantermann (Mitsubishi Electric Europe): Industrie 4.0 hat sich zunächst von einem deutschen zu einem europäischen Ansatz weiterentwickelt – was ich für sehr wichtig halte. Darüber hinaus befördert der Wettstreit mit dem Industrial Internet Consortium in Amerika und der Robot Revolution Initiative aus Japan das Thema auf eine andere Ebene – ein Stück weit weg von der Industrie hin zur Betrachtung der gesamten Wertschöpfungskette. Kontinentübergreifend unterhält man sich deswegen über eine gemeinsame Kommunikationsstruktur und versucht, Gemeinsamkeiten zu finden. All diese Initiativen, letztlich auch China 2025, verfolgen aber die gleichen Ziele. Der deutsche Industrie-4.0-Ansatz, der sich zunächst nur auf die Industrie bezog, greift hier zu kurz.
elektro AUTOMATION: Bevor wir uns der Zusammenarbeit mit dem Industrial Internet Consortium noch einmal zuwenden noch eine Frage zur Sensorik – häufig gern Augen und Ohren der Fabrik genannt, aber auch darüber hinaus ja Basis der Datenerfassung. Genügt die inzwischen mögliche große Menge an Daten bereits, die gewünschten verwertbaren Informationen zu generieren?
Müller (Sick): Wir gehen davon aus, dass Sensoren weiter die Augen und Ohren sind, gefordert ist aber eben auch eine gute Anbindung an übergeordnete Systeme. Dort lassen sich die Daten dann auch verknüpfen, um einen Mehrwert zu generieren, neue Geschäftsmodelle. Diese Themen bewegen uns derzeit am stärksten, obwohl wir natürlich weiter Sensoren für die Industriewelt entwickeln.
elektro AUTOMATION: Werfen wir zunächst noch einen Blick auf die praktische Anwendung – können Sie uns Beispiele nennen, in denen Industrie 4.0 bereits im Einsatz punktet?
Müller (Sick): Ja, das betrifft sowohl kundenindividuelle Lösungen als auch Optimierungen in der Produktion. Ich kenne etwa Beispiele, in denen durch die Datennutzung aus der Prozesskette bei gleichem Ausstoß 30 Prozent Material eingespart werden konnte. Hinzu kommen die Fälle, in denen sich heute schon neue Geschäftsmodelle auszahlen, in denen man neue Services nutzen kann.
Lantermann (Mitsubishi Electric Europe): Ein typischen Beispiel ist natürlich auch das Energie-Management, weil sich nun Ist-Daten besser erfassen lassen und daraus die richtigen Schlüsse gezogen werden können. Eines ist dabei aus meiner Sicht wichtig: Es lohnt sich, in kleinen Schritten in die richtige Richtung zu gehen – entsprechend der japanischen Kaizen-Philosophie. Dann lassen sich schnell Erfolge beim Energie-Management, der Vermeidung von Abfall oder auch schnellere Durchlaufzeiten erreichen. Daten, die heute schon vorliegen, lassen sich häufig bereits sinnvoll nutzen.
Dumitrescu (Fraunhofer IEM): Das kann ich nur unterstreichen! Natürlich müssen wir auf der einen Seite die Vision im Auge behalten, dass wir in zehn Jahren vielleicht fertige Produkte auf Knopfdruck erzeugen können. Beginnen wir aber die Umsetzung mit dieser Vision, kommen wir nicht weiter. Kleinere Use Cases zeigen dagegen viel besser, wo sich wirklich Verbesserungen erreichen lassen. In der Plattform Industrie 4.0 haben wir deshalb 200 dieser Use Cases aufgesetzt – konkrete Beispiele, die es mehr oder weniger bereits gibt.
elektro AUTOMATION: Blicken wir auf die internationale Einbindung von Industrie 4.0 – das Industrial Internet Consortium war bereits genannt worden, wo man sowohl vom Industrial Internet of Things als auch vom Commercial Internet of Things spricht. Welche Bedeutung hat das für die Industrie-4.0-Diskussion?
Glaser (Pilz): Wir sprechen sicher von einer gemeinsamen Physik, gemeinsamen Diensten – allerdings auch von garantiert anderen Nutzungsfällen. Das ist ein Punkt, den alle Automatisierer seit Längerem hervorheben: Das Internet ist nicht der Ersatz einer Automatisierungslösung, es ist vielmehr Träger bestimmter Dienste, die solche Lösungen verbessern und den Datenaustausch mit anderen Instanzen optimieren. Fragen der Echtzeitfähigkeit oder von Sicherheitsmechanismen – sowohl Safety als auch Security betreffend – lassen sich nicht nur datentechnisch beantworten, hier ist Ablauf- und Organisations- sowie Prozess-Know-how gefragt. Das ist ein wichtiger Unterschied zwischen Automatisierern und den großen Internetkonzernen, die sich primär auf die Funktion der Datensammlung und anschließenden Analyse konzentrieren. Über ihr Prozess-Know-how können sich die Automatisierer sehr deutlich von IT- und Software-Häusern differenzieren.
Dumitrescu (Fraunhofer IEM): In der Tat nimmt die Diskussion bezüglich der Digitalisierungsschiene – sprich neuen Diensten und Services – bei uns erst Fahrt auf, da sind die Amerikaner besser aufgestellt. Was fehlt ist aber das Detailwissen über Produktionsprozesse – hier punkten wir; läge dies bei Google oder Amazon, hätten die das Geschäft längst gemacht. Es wird also darauf ankommen, auch im Bereich der Dienste und Services Geschäftsmodelle zu finden – und dafür ist die Zusammenarbeit mit dem Industrial Internet Consortium erforderlich, das eine geht nicht ohne das andere.
Kalhoff (Phoenix Contact): An dieser Stelle ist entscheidend zu definieren, wo die Daten liegen und wer sie verwenden darf – also die Diskussion um die selbstbestimmte Nutzung von Daten. Wir als international agierendes Industrieunternehmen müssen hier vor allem auch für Datenqualität und -integrität sorgen, so dass der Anwender tatsächlich seine Prozesse optimieren kann und Vertrauen zu den Daten und ihren Quellen erhält. Eine wichtige Rolle spielen dabei im technischen Umfeld die Security, zudem Safety, wie bereits angesprochen; dabei geht es neben der Verfügbarkeit einer Anlage auch um deren sicheres und ressourcenschonendes Verhalten in Bezug auf Menschen, Material und Umwelt. Das sind die Themen, die wir mit dem Industrial Internet Consortium besprechen neben den kommerziellen Aspekten, wie sich mit Daten Mehrwertdienste schaffen lassen.
elektro AUTOMATION: Blicken wir etwas tiefer in die Automatisierung, stoßen wir auf das Referenz-Architekturmodell Industrie 4.0 der Plattform Industrie 4.0 – kurz RAMI 4.0. Hier sind ja Aspekte der Automatisierungspyramide mit denen des Lebenszyklus-Managements von Anlagen und der IT-Sicht verknüpft. Lassen sich damit alle Aspekte von Industrie 4.0 abdecken?
Dumitrescu (Fraunhofer IEM): Da ich nicht mitentwickelt habe, kann ich den Versuch einer Einschätzung wagen: Aus meiner Sicht ist RAMI 4.0 konzeptionell hundertprozentig richtig aufgestellt. Viele Unternehmen implementieren es allerdings noch nicht in dieser Art und Weise, weil es teilweise eben doch sehr abstrakt ist. Es ist ein Referenzmodell, es fehlt nun noch so etwas wie ein Applikationsmodell, das mir zeigt, wie ich es einsetzen kann.
elektro AUTOMATION: Herr Kalhoff, Phoenix Contact ist an der Entwicklung beteiligt. Wie sehen Sie das?
Kalhoff (Phoenix Contact): Es ist ein Referenzmodell und dient der Orientierung – und ich denke, dass es einfach benutzt werden muss, um die derzeitigen Produkte und Wertschöpfungsketten einmal einzusortieren. Das machen wir auch bei uns im Unternehmen, um zu sehen, welche Rolle Produkte und Dienstleistungen spielen und an welchen Stellen noch ‚weiße Flecken‘ existieren, die es zu füllen gilt – dafür kann ein solches Referenzmodell gut als roter Faden fungieren. Daneben ist solch ein Modell aber auch eine sehr gute Abstraktionsebene, um mit anderen Konsortien zu sprechen; nicht nur in den USA, sondern auch in Asien und hier in Europa. Das dient dann auch dazu, dass man das gleiche Sprachmodell besitzt – was im Endeffekt nachfolgend sicherstellt, dass die Standardisierung international richtig aufgesetzt wird. Denn letztendlich werden auch in deutschen Maschinen europäische, amerikanische oder chinesische Dienste laufen – die Interoperabilität muss gegeben sein.
Müller (Sick): Es ist allerdings nur ein Modell, keine Einführungshilfe – richte ich mich danach, kommt nicht automatisch am Ende Industrie 4.0 als Ergebnis heraus. Zudem hat man aus meiner Sicht vergessen, das Thema Security ausreichend zu verankern – Datenschutz ist so gut wie nicht enthalten…
Kalhoff (Phoenix Contact): …es ist nicht explizit im RAMI 4.0 sichtbar, aber dennoch überall mit dabei!
Müller (Sick): Mit Blick auf den Themenkomplex sichere Infrastruktur gäbe es allerdings einiges zu ergänzen. In der Summe ist RAMI 4.0 auch eher nichts Neues, vielmehr eine zugegeben schöne evolutionäre Weiterentwicklung basierend auf vorhergehenden Aktivitäten.
Glaser (Pilz): RAMI 4.0 ist definitiv keine technische Entwicklungsspezifikation oder eine Codieranleitung, um standardisiert zu einer Industrie-4.0-Lösung zu kommen. Bedenkt man aber die Hintergründe der Entstehung, auch dass sich hier erstmals VDMA und ZVEI gemeinsam mit dem Bitkom zusammengeschlossen haben – Verbände, die zuvor eher weniger miteinander zu tun hatten –, ist die Schaffung eines solchen Rahmenmodells sehr zu begrüßen. Letztlich dient das vor allem der Strukturierung und der Verortung bestimmter Themenfelder. Ein Beispiel ist etwa das Thema Verfügbarkeit: Ich kann keine Bewegungsregelung durchführen, ohne Antworten zur Echtzeitfähigkeit des Regelungsprozesses zu haben – ein laufender Virenscanner würde hier Probleme schaffen. Aber dies ist eine klare Aufgabe für eben diese maschinennahen Prozesse – und nicht für die ERP-Anbindung.
Aufgrund der unterschiedlichen Ausrichtungen hilft zunächst eine klare Definition und Abgrenzung der verschiedenen Aufgabenstellungen, und genau dies leistet RAMI 4.0.
Kalhoff (Phoenix Contact): Ergänzend kommt hinzu, dass das Referenzmodell ja nicht alleine steht, hinzu kommt die Industrie-4.0-Komponente – aus meiner Sicht gehört beides zusammen. Auf der einen Seite ist RAMI 4.0 ein Orientierungsmodell, das festlegt, an welcher Stelle der Kommunikation, Struktur und Wertschöpfung ich mich befinde. Auf der anderen Seite definiert die Industrie-4.0-Komponente die Datensicht, den digitalen Zwilling. Beides muss immer zusammen betrachtet werden, um den roten Faden zu erhalten, cyberphysische Systeme zu realisieren.
elektro AUTOMATION: Herr Lantermann, können Sie aus japanischer Sicht mit RAMI 4.0 leben?
Lantermann (Mitsubishi Electric Europe): RAMI 4.0 ist ein wirklich allumfassendes Modell, ein Beispiel deutscher Ingenieurskunst und es ist weltweit akzeptiert. Die meisten haben verstanden, dass es sich um einen theoretischen Ansatz handelt, der den gesamten Industrie-4.0-Prozess beschreiben soll. Die Aufgabe, vor der wir jetzt als Lieferanten und in unserem Fall auch Mitglied der Plattform Industrie 4.0 stehen, ist, dem Anwender zu zeigen, wie er mit dem Modell praxisnah arbeiten kann. Wir müssen den Leuten näherbringen, wie RAMI 4.0 in ihrem speziellen Fall zu verstehen ist.
elektro AUTOMATION: Eben tauchte der Begriff ‚digitaler Zwilling‘ auf. Welche Bedeutung hat dieser in der Industrie 4.0?
Lantermann (Mitsubishi Electric Europe): Eine sehr hohe – die meisten Unternehmen verfügen über eine Sammlung von Informationen zu ihren Assets, aber es fehlt der Gesamtüberblick über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Das geht uns selbst nicht anders, weswegen wir nun zunächst für jedes unserer Assets – sei es eine SPS oder ein Roboter – alle Informationen sammeln und zusammenführen, um den virtuellen Zwilling mit Leben zu füllen. Das beginnt bei kommerziellen und reicht über Logistik- bis hin zu Produktionsinformationen. Diese ‚Administration Shell‘ bietet einen großen Vorteil, nicht zuletzt auch mit Blick auf den Datenaustausch zwischen den Engineerings-Tools, denn der Anwender kann von mehreren Tools aus auf diese Administration Shell zugreifen. Das wird das Engineering deutlich erleichtern.
Müller (Sick): Dieses Verwaltungsschalen-Modell ist aus meiner Sicht der wesentliche Teil des RAMI 4.0 – dieses bietet den tatsächlichen Nutzen…
Kalhoff (Phoenix Contact): …weil ich jetzt weiß, an welchen Stellen ich ansetzen muss und weil ich – aufgrund der ‚gleichen Sprache‘ – darüber auch mit amerikanischen oder asiatischen Kollegen reden kann.
Diese Diskussion über RAMI 4.0 und die Verwaltungsschale ist aber auch deswegen von Vorteil, weil man nun auch intern noch einmal die Prozesse analysiert – und auf diese Weise erkennt, wo sich die eigenen Produkte und Dienstleistungen befinden und wie sich das Unternehmen voranbringen lässt.
Dumitrescu (Fraunhofer IEM): Spannend wird der digitale Zwilling vor allem dann, wenn wir wiederum nicht nur die Produktion, sondern die gesamte Wertschöpfung betrachten. Ein ganz wichtiger Punkt ist dabei, dem Kunden nicht nur ein physisches Produkt zu geben, sondern ihm auch noch die zugehörigen digitalen Daten – das sind wir ja bislang nicht gewohnt, zumal die Entwicklungsdaten das höchste Gut der Entwicklungsabteilung sind. Hier muss ein Umdenken stattfinden beziehungsweise es müssen Modelle gefunden werden, mit denen ich Informationen kapseln kann – um dem Kunden die Daten mitzugeben, mit denen er etwas anfangen kann. Ein Beispiel ist die Inbetriebnahme einer Anlage, die dann zunächst virtuell erfolgen kann. Das müssen wir erreichen, wobei es auch seitens der Forschung noch einiger Arbeit bedarf; noch sind wir nicht so weit.
Kalhoff (Phoenix Contact): Im Prinzip regt die Digitalisierung damit auch ein anderes Denken an – noch stärker von den Geschäftsmodellen her, zumal diese sich ja auch wandeln oder disruptive Änderungen hervorbringen.
Lantermann (Mitsubishi Electric Europe): Hinzu kommt: Industrieanlagen sind zwanzig bis dreißig Jahre in Betrieb, wir dürfen uns also nicht nur auf Neuanlagen fokussieren. Vielmehr geht es auch darum, existierende Anlagen besser zu nutzen. Wir müssen jetzt anfangen mit der Digitalisierung, sonst verpassen wir den Anschluss.
elektro AUTOMATION: Lassen Sie uns an dieser Stelle auch noch einmal einen Blick auf die Datenkommunikation werfen. Am Tisch sitzen ja Vertreter, die einerseits Profinet einsetzen, andererseits CC-Link IE. Anlässlich der zurückliegenden Messe SPS IPC Drives haben die beiden zugehörigen Partnerorganisationen Profibus & Profinet International (PI) sowie CC-Link Partner Association (CLPA) mit Blick auf Industrie 4.0 eine engere Zusammenarbeit beschlossen. Wie kann dieser Schulterschluss aussehen?
Lantermann (Mitsubishi Electric Europe): Ganz klar – unsere Kunden leben von Standards. Besitze ich einen hervorragenden Sensor mit Profinet-Anschluss und nutze gleichzeitig bevorzugt ein CC-Link-IE-Netzwerk, darf die Anwendung daran nicht scheitern – das ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Deswegen müssen wir zumindest Brücken schaffen, um von dem einen zum anderen Netzwerk zu kommen – das ist der erste Schritt in Richtung Standardisierung Industrie 4.0. Und da Profinet sicherlich in Europa die Nummer Eins ist, wie CC-Link IE in Japan, liegt eine Kooperation nahe. Wir brauchen eine einheitlich standardisierte Schnittstelle, so dass ich Daten digitalisieren und in die Enterprise-Welt bringen kann, um sie dort zu analysieren – ohne mir permanent zu überlegen, ob ich das richtige Protokoll einsetze.
Kalhoff (Phoenix Contact): Allerdings wird es weiter so sein, dass es eine bunte Welt von Netzwerken gibt – und hier kann wiederum RAMI 4.0 von Vorteil sein. Schaut man sich das Modell mit seinen verschiedenen Ebenen an, lässt sich auf Applikationsebene – und die ist für den Kunden ja das Wichtigste – eine Lösung finden, damit sich die Welten untereinander verstehen können. Entscheidend ist, diese Brücken zu schlagen, um verschiedene Systeme anzuschließen und um sicherzustellen, dass Neuanlagen ebenfalls noch zwanzig oder mehr Jahre betrieben werden können – das erwarten die Kunden von uns.
Müller (Sick): Unsere Sensoren können fast alle Sprachen sprechen, aber es ist natürlich wichtig, die richtige zu wählen. Zumal die Idee ja ist, dass der Sensor jederzeit mit der SPS kommunizieren können muss, möglicherweise seine Daten auch in die Ethernet-Welt geschickt werden. Wir setzen deswegen auf rückwärtskompatible Systeme, die beides können. Auf der Ethernet-Seite ist dann natürlich die Protokollfrage spannend, wobei OPC den Vorteil bietet, dass sich damit eine Menge Protokollaspekte nutzen lassen. Allerdings steckt das Thema Echtzeit dabei noch in den Kinderschuhen – da gibt es noch einiges zu tun.
Glaser (Pilz): Da sich auf der physikalischen Ebene sicher Industrial Ethernet als Standard durchsetzen wird, kommt es in der Ausprägung vor allem wieder auf den Anwendungsfall an. Echtzeitfähigkeit und ERP-Anbindung von Kommunikationsdiensten sind einfach komplett unterschiedliche Themenbereiche. Trotzdem müssen wir die Einheitlichkeit und Übergänge von Datendiensten diskutieren und benötigen auch mehr Dienste-Kompetenz in den Geräten. Wir müssen dabei nicht nur über ein Echtzeit-Ethernet-Protokoll für den Steuerungsdatentransfer reden, sondern auch über gemeinsame Prozessaufträge und einheitliche Funktionen. Hier bietet sich OPC UA natürlich an – aus unserer Sicht wird das der nächste Standardisierungsschritt in Richtung einheitlicher Datendienste sein. Können wir dann noch das Thema Echtzeitfähigkeit darauf abbilden, haben wir einen weiteren großen Schritt getan.
Lantermann (Mitsubishi Electric Europe): CC-Link IE ist durchaus schon heute in der Lage, in Echtzeit Ethernet-Kommunikation zu betreiben – und zwar durchaus auch bei härteren Anforderungen an die Echtzeit. Halten wir uns zudem das Mooresche Gesetz vor Augen, wird sich die Ethernet-Leistungsfähigkeit bei Geschwindigkeit und Datenvolumen in zwei Jahren sicherlich verdoppelt haben – dann reden wir auch nicht mehr über Echtzeitfähigkeit.
elektro AUTOMATION: Dr. Dumitrescu, Ihre Fraunhofer-Kollegen in Augsburg halten eine Steuerung in der Cloud für realistisch. OPC UA kann zudem mittels des IEEE-Standards TSN (Time-Sensitive Networking; siehe elektro AUTOMATION 1-2/2016, S. 28ff: „Mit TSN zu besseren Echtzeiteigenschaften“) echtzeitfähig werden. Macht eine Steuerung in der Cloud Sinn?
Dumitrescu (Fraunhofer IEM): Bei Fraunhofer, also nicht nur bei den Augsburger Kollegen, ist es eine der großen Strategien, auf Industrial Clouds zu setzen, auch über die Steuerung hinaus. Würden wir nicht glauben, dass dies der richtige Weg ist, würden wir es nicht machen. Auf der anderen Seite muss man festhalten, dass was in Forschungslaboren funktioniert, natürlich noch ein Stück weit davon entfernt ist, in der Praxis unter realen Bedingungen zu funktionieren. Es wird noch einige Jahre dauern, bis das in standardisierte Applikationen hineingeht.
Lantermann (Mitsubishi Electric Europe): Wir kennen ja mit der IEC 61499 schon länger das Thema der verteilten Intelligenz und ich denke, dass es sicherlich viele Fälle gibt, in denen eine Anwendung in der Cloud sinnvoll ist. In der Realität beim Kunden stehen aber derzeit noch andere Themen im Vordergrund, etwa die Frage des Vorcomputings – bei dem alle wesentlichen Daten der Produktion dort belassen werden. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung. Vor Augen halten sollte man sich auch, dass schon heute viele Sensoren eine eigene Rechenleistung mitbringen, die nicht genutzt wird, die der SPS übrigens meistens auch nicht. Man sollte also die Daten dort verarbeiten, wo sie am besten aufgehoben sind und sicher verarbeitet werden können – da gibt es viele Spielräume. Eine Safety-Steuerung wird darüber hinaus aber mit Sicherheit auch weiter ihre Berechtigung haben. Unabhängig davon versucht natürlich jeder herauszufinden, welches Potential die Cloud bietet.
Kalhoff (Phoenix Contact): Im Prinzip orchestriert der Kunde sein Automatisierungssystem so, wie er es benötigt. Dabei können verschiedene Aspekte wie Verfügbarkeit, Datensicherheit, Mehrwertdienste oder Services einzelner Hersteller eine Rolle spielen. Eine Cloud kann außerhalb des Unternehmens zudem auch direkt an der Maschine sitzen – eine zentrale Steuerung ist letztlich ja auch eine Cloud für die Maschine.
Müller (Sick): Ich denke, dass die Cloud erst richtig interessant wird, wenn Fremddaten hinzukommen – ein Beispiel können Wetterdaten sein. Verknüpft man all diese Daten, kann die Cloud möglicherweise der richtige Ansatz sein.
elektro AUTOMATION: Herzlichen Dank allen Teilnehmern für die lebhafte Diskussion.

Videohinweis

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info

Ausschnitte dieses 2. Roundtable-Gesprächs von elektro AUTOMATION und Industrieanzeiger sind auch als Video unter dem folgenden Link verfügbar:

Die Teilnehmer

INFO

Dr. Roman Dumitrescu, Direktor Fraunhofer IEM(Fraunhofer-Einrichtung für Entwurfstechnik Mechatronik)
Armin Glaser, Leiter Produktmanagement, Pilz GmbH & Co. KGSPS IPC Drives: Halle 9, Stand 370
Johannes Kalhoff, Leiter Technology Management im Bereich Corporate Technology, Phoenix Contact GmbH & Co KGSPS IPC Drives: Halle 9, Stand 310
Thomas Lantermann, Senior Business Development Manager der Factory Automation Business Group, Mitsubishi Electric Europe BVSPS IPC Drives: Halle 7, Stand 391
de3a.mitsubishielectric.com
Bernhard Müller, Geschäftsleitung, Sick AGSPS IPC Drives: Halle 7A, Stand 340

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