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Die Vereinheitlichung von Netzwerken

TSN – standardisierte Datenautobahn für Echtzeitsysteme
Die Vereinheitlichung von Netzwerken

2004 formierte sich die AVB-Gruppe (Audio Video Bridging) im IEEE mit dem Ziel, Audio- und Videodaten unter Berücksichtigung professioneller Qualitätsansprüche über das allgegenwärtige Ethernet zu übertragen. Ihre Arbeit floss in den Standard IEEE 802.1Q ein. Die Gruppe erweiterte ihren Fokus auf die Unterstützung zeitkritischer Steuerungsaufgaben, wie sie zum Beispiel in der Automatisierungstechnik anfallen. Im Jahr 2012 wurde sie in „Time Sensitive Networks“ (TSN) umbenannt.

Der Begriff TSN selbst bezeichnet eine modulare Familie neuer oder erweiterter IEEE-Standards, die für eine Anwendung flexibel kombinierbar sind. Großer Vorteil ist die nahtlose Integration in alle bestehenden und zukünftigen, das Ethernet betreffender Standards der Normenreihe IEEE 802.

Motivation zu TSN
TSN hat im Umfeld der Industrie-4.0-Aktivitäten zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Dies liegt auf der Hand, da Industrie 4.0 auf eine möglichst transparente Einbindung der Produktionsmittel in die Unternehmens-IT aufbaut. Bisherige von IEEE-Standards abweichende Lösungen auf der Feldebene erschweren diese Transparenz. TSN liefert hier einen wertvollen Beitrag zur Vereinheitlichung der Netzwerke. Dies macht die heute üblichen, speziellen Gateway-Lösungen zwischen den Welten der Office-IT sowie der Feldbusebene überflüssig.
Der Grund dafür ist die Echtzeitfähigkeit auf der Feldebene im Zusammenspiel mit den durch sie kontrollierten Abläufen und Prozessen, die eine deterministische, also vorhersagbare Datenübermittlung voraussetzen. Das traditionelle Ethernet arbeitet auf Schicht 2 nach dem Best-Effort-Prinzip, d. h. es leitet die Daten im Hinblick auf den Gesamtdurchsatz so effizient wie möglich weiter. Wie lange ein bestimmtes Datenpaket auf der Reise ist, welchen Weg es einschlägt und ob es überhaupt an sein Ziel gelangt, ist dabei völlig unbestimmt. Im Zweifel wird es durch die Schicht 3, also zum Beispiel TCP/IP, erneut übertragen. Für eine Echtzeitanwendung ist dieses Verhalten unakzeptabel.
Echtzeitsysteme heute
Etablierte Ethernet-basierte Echtzeitsysteme für die Automatisierungstechnik bedienen sich dem jeweils aktuellen Stand der Ethernet-Technik ergänzt um eigene Erweiterungen, die die fehlenden Echtzeiteigenschaften nachrüsteten. Hierbei unterschieden sich die Entwicklungsziele abhängig von den jeweiligen Anwendungsschwerpunkten sehr stark, wodurch sich die teilweise sehr unterschiedlichen Lösungsansätze erklären.
Die Mehrachsensteuerung eines Roboters benötigt schnelle Zykluszeiten von weniger als 100 µs in räumlich kleinen Netzwerksegmenten. Eine Fertigungsstraße dagegen kommt mit Zykluszeiten im Millisekunden-Bereich aus, hat dafür jedoch auch eine größere Ausdehnung. Eine Prozess-Steuerung hat nochmals geringere Zeitanforderungen, dehnt sich dafür aber über große Entfernungen aus.
Dazu gesellen sich kommerzielle Gesichtspunkte. Je weiter eine technische Lösung von verfügbaren Standards abweicht, desto größer sind die Kosten zu ihrer Entwicklung, Umsetzung und Pflege. Aus Kostengründen finden Weiterentwicklungen kaum statt. Ein offensichtliches Beispiel hierzu ist die Übertragungsgeschwindigkeit. Der Standard IEEE 802.3ab (1 Gb) wurde bereits 1999 verabschiedet. Derzeit arbeiten alle führenden Ethernet-basierten Automatisierungssysteme noch mit maximal 100 Mb. Die Erweiterung auf 1 Gb ist technisch möglich, erfordert allerdings die Überarbeitung der entsprechenden Spezifikationen und der Spezial-Hardware. Am unteren Ende der Skala könnte eine ähnliche Situation entstehen. Seit 2016 untersucht die „IEEE 802.3 10 Mb/s Single Twisted Pair Ethernet Study Group“ die Machbarkeit eines neuen Standards für 10 Mb Full-Duplex-Übertragung über ein einzelnes Aderpaar. Distanzen von 1 km und Phantomspeisung sind geplant. Diese Technik hat das Potential, die übliche 4-20-mA-Stromschleife abzulösen, ohne dass hierzu aufwändig die viele Kilometer lange Verkabelung ganzer Anlagenteile ausgetauscht werden müsste. Sollte dieser neue Übertragungsstandard einmal verfügbar werden, integriert er sich sofort nahtlos in TSN-basierte Netzwerke.
Technische Merkmale von TSN
TSN greift viele wegweisende Details bestehender Automatisierungslösungen auf und führt sie in einem allgemeinen IEEE-Standard zusammen. Wo nötig, sinnvoll ergänzt um neue Funktionen wie zum Beispiel Frame Preemption. Damit ermöglicht TSN eine Konvergenz der heutigen Insellösungen. Die wichtigsten derzeit umgesetzten Standards der TSN-Familie schließen bestehende AVB-Erweiterungen zum Ethernet Switching (IEEE 802.1Q) ein.
  • Stream Reservation plus Credit-based Shaper (802.1Q) (AVB): Definition von Datenströmen und deren maximaler Bandbreite, um die verfügbare Übertragungskapazität kontrolliert zwischen konkurrierenden Datenströmen aufzuteilen. Garantiert keine maximale zeitliche Verzögerung und nur indirekt eine minimale Bandbreite.
  • VLANs & Priority (802.1Q) (AVB): Logische Trennung sowie Priorisierung konkurrierender Datenströme, um die Belegung von Netzwerkressourcen aufzuteilen und hoch priorisierte Daten bevorzugt weiterzuleiten. Ermöglicht harte Echtzeit für einen einzelnen, höchst prioren Datenstrom.
  • Timing & Synchronization (IEEE 802.1AS): Zeitsynchronisation aller Netzteilnehmer im Bereich von Nanosekunden-Genauigkeit. Unverzichtbar für synchrone Endknoten und zeitgesteuerte Weiterleitung innerhalb der Switches.
  • Enhancements for Scheduled Traffic (IEEE 802.1Qbv): Garantierte deterministische Weiterleitung der Datenpakete innerhalb des Netzwerks durch Zuweisung fester, exklusiver Zeitschlitze. Schließt Beeinflussung durch anderen Netzwerkverkehr aus, die Daten durchlaufen das Netzwerk stets in dem vorgegebenen Zeitplan. Schutzintervall vor jedem Zeitschlitz lässt nur noch Pakete auf die Leitung, die innerhalb des vorherigen Zeitschlitzes komplett übertragen werden können.
  • Interspersing Express Traffic/Frame Preemption (IEEE 802.3br / IEEE 802.1Qbu): Unterbrechung von Datenpaketen auf der Leitung, um höher priorisierte Daten sofort senden zu können. Unterbrochene Datenpakete werden anschließend ab der Unterbrechungsstelle weiter gesendet.
  • Scheduled Traffic: Zeitnahe Weiterleitung priorisierter Daten. Mit Scheduled Traffic Vergrößerung der Bandbreite, da Schutzintervalle vor Zeitschlitzen deutlich kleiner ausfallen können. Sehr effektiv bei hoch performanten Systemen mit schmalen Zeitschlitzen.
Die Verfügbarkeit kompatibler Hardware ist gewährleistet, da Halbleiterhersteller üblicherweise internationale Standards von allgemeinem Interesse sukzessive in ihre Produkte übernehmen.
Der Weg
Die heute verfügbare TSN-Technologie stellt nur einen ersten Teil der Verkehrsinfrastruktur bereit, über die Endanwendungen Informationen austauschen, sozusagen die (Daten-)Autobahnen. Doch es braucht mehr als die Straße, um ans Ziel zu gelangen: Fahrzeuge, Verkehrsregeln, Routenplaner, Verkehrsleitsysteme, Verkehrsüberwachung und vieles mehr. Auf die Netzwerke übertragen bedeutet dies, dass es mit den verfügbaren Standards lediglich Mechanismen gibt, welche Echtzeit gerichtete Datenpakete nach den ihnen auferlegten Regeln von der Quelle zur Senke befördern. Doch was ist die Bedeutung dieser Daten? Wer legt ihren Weg durch das Netzwerk fest? Wer bestimmt den zeitlichen Gesamtablauf? Wer konfiguriert die Endgeräte? Mögliche Lösungen dieser Fragen werden momentan intensiv diskutiert. Für den Sektor der Industrieautoma-tion sind zwei Modelle erkennbar.
Eine naheliegende Lösung ist der direkte Austausch der etablierten, verschiedenartigen Schicht-2-Spezifikationen durch TSN. Alle weiteren Komponenten werden möglichst unverändert weiter genutzt. Dies minimiert die Entwicklungsaufwendungen und kann zeitnah umgesetzt werden. Synergien ergeben sich durch die Nutzung der standardisierten Kommunikation und entsprechender Hard- und Softwarekomponenten. Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle bleiben unverändert.
Aus Sicht der Industrie 4.0 ist diese Lösung allerdings unbefriedigend, denn sie vereinfacht den Datenaustausch und die Interoperabilität zwischen den einzelnen Systemen nicht. Aus diesem Grund verfolgen Organisationen wie Avnu, IIC, OPC und IEEE das Ziel einer offenen Standardarchitektur für industrielle Echtzeitsysteme. Diese deckt alle wichtigen Aspekte ab und bietet weitgehende herstellerunabhängige Interoperabilität vom Feldgerät bis zur Cloudanwendung über die heutige Grenze zwischen Automatisierung und Office-IT hinweg. Das wird an einem Beispiel zur unabhängigen Netzwerkverwaltung deutlich. Endknoten melden ihren Kommunikationswunsch an die zentrale CUC-Einheit. Diese setzt ihn im Zusammenspiel mit der CNC-Einheit um und meldet das Ergebnis an den anfordernden Knoten zurück. Die CNC-Einheit verwaltet die Netzwerkressourcen und konfiguriert sie entsprechend.
Transparenz und Interoperabilität schaffen die Voraussetzungen für ganz neue Geschäftsmodelle, erfordern allerdings auch das Überdenken bisheriger Strategien in vielen Bereichen, zum Beispiel der Netzwerksicherheit. In der Vergangenheit waren industrielle Steuerungssysteme abgeschottete Insellösungen. Der Zugang zu ihnen war streng limitiert. Dieses Dogma gilt nicht mehr. Anlagen werden durch Fernwartungszugänge und Big-Data-Anwendungen weltweit erreichbar. Die Wartung erledigt Fremdpersonal. Installierte Geräte könnten nicht vertrauenswürdige Fälschungen sein. Als Reaktion auf diese neuen Herausforderungen entstanden und entstehen wie bei der Echtzeitkommunikation viele Insellösungen. Nachteilig sind ganz analog mehrfache Entwicklungs- und Zertifizierungsaufwendungen sowie die Grenzen zwischen den einzelnen Sicherheitsdomänen. Jeder Bruch in der Sicherheitsarchitektur stellt ein willkommenes Angriffspotential für Hacker dar. Die Einführung der TSN-Technologie bietet eine gute Gelegenheit, parallel ein einheitliches Sicherheitskonzept zu verfolgen – nahtlos vom Sensor bis zur Cloud.
Die Zukunft
TSN wird sich aufgrund seiner vielen Vorteile als Ethernet-basierte Standardlösung für industrielle Kommunikationsnetzwerke durchsetzen. Erste Nischenprodukte sind bereits heute verfügbar, weitere TSN-fähige Produkte sind für dieses Jahr angekündigt. Für das Ende dieses Jahrzehnts ist von einer breiten Verfügbarkeit ausgereifter TSN-Standardlösungen auszugehen. TSN wird die Automatisierungswelt nicht über Nacht erobern. Investitionen in bestehende Systeme und Anlagen müssen sich über Jahre und Jahrzehnte amortisieren. Es wird einen Übergangzeitraum geben, in dem bestehende Systeme betrieben, gewartet und angepasst werden und parallel dazu neue Anlagen auf TSN-Basis entstehen. Der zusätz-liche Aufwand in dieser Übergangsphase lässt sich durch Einsatz von Multiprotokoll-Bausteinen wie zum Beispiel der R-IN-Familie von Renesas minimieren. Auf ihrer Basis lassen sich zukunftssichere Geräte entwickeln, die sowohl die etablierten Standards als auch die neue TSN-Technologie unterstützen. ge

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