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Siemens-Manager Brandes über Digitalisierung in der Prozessindustrie

Prozesstechnik
Siemens-Manager Dr. Jürgen Brandes über Digitalisierung in der Prozessindustrie

Industrie 4.0 ist das Thema schlechthin in der deutschen Wirtschaft. Auch die Prozessindustrie entdeckt zunehmend die Vorteile smarter Technologien. Im Gespräch mit der elektro AUTOMATION erläutert Dr. Jürgen Brandes, CEO der Division Process Industries and Drives der Siemens AG, welche Vorteile die Anwender durch die Digitalisierung in der Prozessindustrie haben. Gleichzeitig sieht er aber auch beträchtliche Herausforderungen – zum Beispiel die IT-Sicherheit.

Johannes Gillar, stellvertretender Chefredakteur elektro AUTOMATION

elektro AUTOMATION: Auch in der Prozessindustrie gewinnt das Thema Industrie 4.0 und die vernetzte, digitalisierte Produktion an Bedeutung. Welche Vorteile haben die Anwender durch die Digitalisierung in der Prozessindustrie?
Dr. Brandes: Viele Anwender wollen existierende Anlagen effizienter machen und auch für neue Produkte nutzen. Dabei hilft die Erfassung zusätzlicher Daten und deren Nutzung, um den Anlagenbetrieb zu optimieren und Stillstandszeiten zu minimieren. Denn dank dieser Daten wissen die Anlagenbetreiber um die Lebensdauer von beispielsweise Pumpen, Motoren, Kompressoren und können so die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der bestehenden Anlagen verbessern. Warum spreche ich von bestehenden Anlagen? Derzeit gibt es genügend Kapazität am Markt. Es sind also in der nächsten Zeit weniger Neuinvestitionen zu erwarten, es geht eher darum, existierende Anlagen besser zu nutzen und in Zukunft wettbewerbsfähig zu halten.
 
elektro AUTOMATION: Digitalisierung beziehungsweise Industrie 4.0 bedeuten Vernetzung. Welche Herausforderungen müssen die Hersteller in der Prozessautomatisierung meistern, um eine vernetzte Produktion zu realisieren?
Brandes: Vernetzung bedeutet, dass sämtliche Informationen einer Produktionsanlage für die vor-und nachgelagerten Produktionsschritte oder für die Zustandsanalyse z.B. in der Cloud zur Verfügung stehen, ohne den sicheren Anlagenbetrieb zu gefährden. Eine der größten Herausforderungen ist hierbei IT-Security. Wenn ich über einen „Port“ Daten aus dem Firmennetzwerk nach außen schicke, ist das auch immer eine Möglichkeit in das System einzudringen und Schaden zu verursachen. Es geht also darum, diese Lücke zu schließen, sicherzustellen, dass diese Tore nur für den Zweck autorisierter Datenentnahme beziehungsweise -weitergabe genutzt werden. Siemens hat ein Sicherheits-Konzept (Defense in Depth) entwickelt, das die Anlagensicherheit, Netzwerksicherheit und die Systemintegrität umfasst.. Hierbei werden alle wesentlichen Aspekte berücksichtigt, wie physischer Zugangsschutz, organisatorische Maßnahmen wie Richtlinien und Prozesse, genauso wie technische Maßnahmen zum Schutz der Netzwerke und Systeme vor unbefugten Zugriffen, Spionage und Manipulation. Dieses Konzept bietet Siemens als Service für neue als auch bestehende Anlagen an.
 
elektro AUTOMATION: Die Automatisierung modularer Anlagen ist ein großer Trend in der Prozessindustrie. Studien belegen die Vorteile einer modularen Automatisierungstechnik gegenüber einer konventionellen Automatisierung. Was ist der Unterschied zwischen beiden Konzepten und welche Vorteile sind das konkret?
Brandes: Bei der Modularisierung geht es darum, ein komplexes Gesamtsystem in funktionale Einheiten zu zergliedern, die alle in sich funktionieren und getestet sind und sich dann wie Baukästen zusammenstellen lassen. Die modulare Automatisierungstechnik folgt hier der Modularisierung in Verfahrenstechnik und Anlagenbau. Der Gedanke dabei ist es, dass man Module mit Automatisierungssystemen unterschiedlicher Hersteller beliebig miteinander kombinieren kann. Über Plug & Produce werden die Module in ein übergeordnetes Leitsystem nahtlos integriert. Die Verantwortung für einzelne Module bleibt bei den jeweiligen Lieferanten. Der Vorteil des Konzeptes ist eine Verkürzung der Time-to-Market durch den Rückgriff auf vorkonfigurierte Module beim Engineering und durch Erhöhung der Flexibilität im Lebenszyklus beim Umbau der Anlage. Damit verbessert der Betreiber die Total-Cost-of-Ownership und seine Wettbewerbsfähigkeit.
 
elektro AUTOMATION: Welche Chancen beziehungsweise Risiken birgt die Modularisierung für die Automatisierer aber auch für die Anlagenbetreiber?
Brandes: Letztendlich geht es darum, dass sich die Automatisierer auf einen Standard für die genannten Plug & Produce-Mechanismen einigen müssen. Wir als Siemens unterstützen diese offenen Ansätze. Ein Hersteller kann nicht in allen Teilsystemen Weltspitze sein, daher muss es für den einzelnen Anwendungsfall möglich sein, verschiedene Systeme so zu kombinieren, dass eine leistungsfähige Produktionsanlage entsteht. Wichtig ist, dass die unterschiedlichen Module zueinander passen. Ein Ansatz ist, dass wir anhand digitaler Abbilder der Module prüfen, wie die Anlagenteile in der Realität als System zusammenpassen. Grundsätzlich sollte man jedoch aufpassen, dass Standardisierung Innovation nicht behindert. Wenn man Standards setzt, friert man die Schnittstelle auf dem Stand der Technik ein, der zur Zeit des Standards existiert hat.. Ein Beispiel aus der Bahnindustrie: Dort hat es auf Grund von Sicherheitsstandards extrem lange gedauert, von mechanischen Stellwerken hin zu einer modernen dezentralen Automatisierungstechnik zu kommen. Das ist bis heute noch nicht überall Stand der Technik. Der Grund dafür waren Sicherheitsstandards, die dazu geführt haben, dass diese Branche sich nicht in der gleichen Weise weiter entwickelt hat, wie wir es z.B. aus der industriellen Automatisierungstechnik kennen.
 
elektro AUTOMATION: Neben verkürzten Produkteinführungszeiten und effizienterem Engineering der Verfahrenstechnik soll im Rahmen von Industrie 4.0 auch die Flexibilität der Prozessanlagen gesteigert werden. Wie lässt sich das erreichen?
Brandes: Neben Modularisierung bietet das digitale Model auch weitere Möglichkeiten, die Flexibilität und Effizienz zu steigern. Denn es erlaubt, Änderungen am Modell auszuprobieren und zu prüfen, ob man auch das gewünschte Ergebnis erzielt, bevor man an der realen Anlage Prozessparameter ändert. Fragen, die sich diesbezüglich stellen, sind beispielsweise wie viel Zeit verliere ich, um Anlagenteile zu reinigen und neu zu beschicken. Und was ist eine sinnvolle Reihenfolge der verschiedenen Lose um Reinigungs- oder Beschickungsaufgaben möglichst kurz und effizient auszuführen? All das kann ich über ein digitales Modell erarbeiten, bevor ich es in der Realität durchführe. Es ist sogar vorstellbar, dass man Module der Produktionsplanung bis hin zur Logistik mit dem digitalen Modell des eigentlichen Prozesses verbindet, sodass man die Verantwortung, welche Fabrik, welches Produkt produziert, zentralisieren kann und sogar die Auslastung der Fabriken weltweit an die Entwicklung der Marktpreise in den verschiedenen Regionen anpassen kann. Weitere Vorteile für die effiziente Prozessführung ergeben sich durch die Siemens Software XHQ. Dabei handelt es sich um eine Operations-Intelligence-Lösung, mit der sich operative und geschäftliche Daten von den Produkten in Echtzeit aggregieren, in Beziehung setzen und darstellen lassen. In der Prozessindustrie kann man so zum Beispiel sehen, was in bestimmten Raffinerien gerade produziert wird, ob Diesel, Kerosin oder Benzin, und es dann anhand lokaler Märkte ausbalancieren. Das sind echte Mehrwerte für die Nutzer eines solchen IT-Tools.
 
elektro AUTOMATION: Siemens hat eine ganze Reihe innovativer Lösungen beziehungsweise Konzepte für die Prozessindustrie im Portfolio. Welche Rolle spielen diese im Zusammenhang mit einer digitalisierten Produktion?
Brandes: Dabei gibt es verschiedene Lösungen zu betrachten. Einmal wäre da unsere skalierbare Cloud-Plattform Mindsphere. Damit stellen wir eine Plattform zur Verfügung, die es Kunden ermöglicht, Daten aus dem Feld zu erfassen und zu analysieren. Die Plattform ist so die Grundlage für Anwendungen und datenbasierte Services von Siemens und Drittanbietern, etwa in den Bereichen vorausschauende Wartung, Energiedatenmanagement oder Ressourcenoptimierung. Dazu bieten wir ergänzend die entsprechende Software an. Hierbei geht es vor allem um Dokumentation und Engineering. Also darum, im Engineering einen digitalen Zwilling zu erzeugen, der dann hilft, eine Anlage besser zu verstehen und zu betreiben. Wenn ich den digitalen Zwilling habe, bin ich auch in der Lage Trainingskonzepte aufzubauen, den Mitarbeitern über eine 3D-Visualisierung zu zeigen, wie Wartungs- und Maintenance-Aktivitäten durchzuführen sind, bevor die Anlage real existiert.
 
elektro AUTOMATION: Was tut Siemens um einerseits Engineering und Lifecycle Management zu optimieren und andererseits die Produktivität und die Flexibilität von Anlagen zu verbessern?
Brandes: Zuerst einmal hören wir unseren Kunden gut zu, um zu verstehen, wo sie Verbesserungspotenzial sehen. Wir gehen nicht mehr als typischer Anbieter einer Palette von Software- und Hardwareprodukten zum Kunden, sondern treten offen an ihn heran – unter Umständen auch mit Kooperationspartnern – und beginnen zunächst ein gemeinsames Assessment. Dann beraten wir uns mit dem Kunden, welche Möglichkeiten es gibt. Meist entwickeln sich aus solchen Beratungen innovative Ideen, an denen wir dann gemeinsam arbeiten, um diese Themen nach vorn zu bringen. Die digitale Welt macht das Thema Cooperation/Coengineering zwingend notwendig. Man ist es von uns gewohnt, dass wir die virtuelle Welt erzeugen können, aber der eigentliche Effekt kommt erst zum Tragen, wenn der Kunde uns die Möglichkeit gibt, in seine Prozesse zu gehen und mit ihm gemeinsam den Business Case zu erarbeiten.
 
elektro AUTOMATION: Letztendlich geht es bei Industrie 4.0 auch um Geschäftsmodelle. Welche neuen Geschäftsmodelle für die Prozessindustrie (Anlagenbetreiber/Automatisierungstechnikhersteller) können Sie sich vorstellen?
Brandes: Diese Frage schließt unmittelbar an die vorherige an. Das ist eine Diskussion auf Managementebene – was ist die Kernkompetenz des Unternehmens? Und was sind lediglich Hilfsprozesse anhand derer der Kunde sich nicht differenzieren kann. Da geht es um die Entscheidung, in welche Themen investiere ich, oder welche vergebe ich extern. In anderen Bereichen ist das ja bereits üblich. Z.B. würde ein pharmazeutisches Unternehmen zwar die Kompetenz bei sich sehen, neue Arzneimittel zu entwickeln, aber es ist nicht notwendigerweise eine Kernkompetenz, alle Produktionsprozesse zur Herstellung der Arznei in der eigenen Verantwortung zu haben. Da kann man sich performance-basierte und Betreibermodelle vorstellen. Diese neuen Geschäftsmodelle wird es geben und wir von Siemens sind offen dafür. Wir sind auch in der Lage finanzielle Lösungen zu finden und anzubieten. Denn oftmals wird das Thema nicht technisch, sondern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten entschieden.
 
elektro AUTOMATION: Vernetzung, Kommunikation und Offenheit von Maschinen und Anlagen sind ein unabdingbares Muss, wenn das digitale Unternehmen Realität werden soll. Auf der anderen Seite steht das Thema Sicherheit (funktionale + Cyber-Sicherheit). Wie lässt sich beides miteinander vereinbaren?
Brandes: Der Gesamtbetreiber einer Anlage muss immer die funktionale Sicherheit herstellen. Diese darf durch Digitalisierung nie gefährdet werden. Cyber Security und Industrial Security sind hierfür wichtige Bausteine. Wir als Hersteller müssen z.B. sicherstellen, dass gewisse Verschlüsselungen funktionieren, dass gewisse Informationen aus den Verschlüsselungen nur bestimmten Personen oder Maschinen zur Verfügung gestellt werden. Andererseits muss sichergestellt werden, , dass nur autorisiertes und geschultes Personal Zugriff auf die Anlage hat. Wir sehen uns als Berater, der die verschiedenen Aspekte im Sicherheitssystem beginnend mit der klaren Definition der Verantwortungsbereiche aufzeigt. Dazu gehört mit welchen Trainings-, Betreiber-, Hardware- und Kommunikationskonzepten sich ein Höchstmaß an IT-Sicherheit sicherstellen lässt.
 
elektro AUTOMATION: Offenheit ist aber nicht nur bezüglich der Systeme eine Grundvoraussetzung für Industrie 4.0. Auch die Akzeptanz der Menschen in den Fabriken und Anlagen ist ein Kriterium für den Erfolg der vierten industriellen Revolution. Wie gelingt es, die Menschen von diesem Wandel zu überzeugen und sie damit auf dem Weg in die digitale Zukunft mitzunehmen?
Brandes: Die Veränderung wird ja nicht schlagartig passieren, aber sie wird kommen. Insofern gibt es verschiedene Wege. Junge Menschen, die Fähigkeiten und Erfahrungen z.B. über Video-Games mitbringen und ein Verständnis dafür haben, wie solche neuen Tools aussehen, werden relativ schnell als Fachleute in dieser neuen Welt gebraucht werden. Und sie werden auch relativ schnell in entscheidende Positionen kommen und somit bestimmen, wie diese Produkte später auszusehen haben. Junge Menschen werden neue, ungeahnte Möglichkeiten in dieser digitalen Welt haben. Die Älteren müssen akzeptieren, dass sie gewisse Dinge nach den bisherigen Maßstäben gar nicht mehr beurteilen können. Sie müssen lernen, sich ständig in Frage zu stellen und offen zu sein und diesen jungen Erfahrungsträgern der digitalen Welt zu vertrauen. Wir müssen aber auch an die Menschen denken, die noch nicht in der digitalen Welt angekommen sind. Die künstliche Intelligenz, die Welt der Digitalisierung wird Abläufe und Prozesse automatisieren, die das Personal heute noch manuell macht. Und hier kann es nur darum gehen, dass man Menschen qualifiziert und dass man ihnen eine Perspektive gibt, wie sie sich in der Welt der Digitalisierung bewegen können. Und da kann ich nur an jeden Einzelnen appellieren, offen zu sein und an das Thema aktiv heranzugehen. Wie bei jeder industriellen Revolution werden nur diejenigen davon profitieren, die für sich einen Weg in diese neue Welt finden und auch Spaß daran haben.

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