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Parallelbetrieb auf absehbare Zeit

Experten-Interview zum Nutzen von IPv6 in der Automatisierung
Parallelbetrieb auf absehbare Zeit

Auch die Hannover Messe hat unter dem Leitthema ‚Integrated Industry‘ gezeigt, dass in Zukunft eine der wesentlichen Herausforderung die Vernetzung aller Industriebereiche sein wird. Mit zunehmender Zahl der Teilnehmer ist jedoch die Anzahl von Netzwerkadressen beschränkt, so dass nur mit der Einführung von IPv6-Adressen Abhilfe geschaffen werden kann. Doch welche Auswirkungen hat die IPv6-Technologie auf die Automatisierung?

elektro Automation: Wie hoch wird mittelfristig der Bedarf an Netzwerk-Adressen geschätzt? Welche Geräte und Systeme werden zukünftig zwischen der Sensor-Aktor- und der Leitebene bzw. vertikal in den Unternehmen in die Vernetzung einbezogen werden?

Kröger (Endress+Hauser): Sicherlich wird es immer Geräte geben, für die sich eine Vernetzung nicht lohnt – aber die Möglichkeit, sie zu nutzen, wird zunehmend vorausgesetzt. Dabei kann es sich beispielsweise um Messgeräte in der Prozessautomatisierung, Steuerelemente in der Gebäudeautomatisierung oder intelligente Roboterwerkzeuge in der Fertigungsindustrie handeln. Von einem iPad wird erwartet, sich mit nur minimalem Aufwand mit dem Internet zu verbinden. Genauso wird von Elementen in der Industrie die Integration in kommunikative Systeme erwartet. Alle Teilnehmer einer Kommunikation müssen adressierbar sein. Heute hat sich dafür der Standard des Internet-Protokolls (IP) als stabile und netzwerkübergreifende Kommunikationsplattform etabliert.
Plonka (Siemens): Wir sehen bei unseren Kunden einen sehr großen Bedarf an IP-Adressen, da zum einen immer größere Fabrikationsanlagen gebaut werden und zum anderen der Einsatz von Ethernet-basierten Netzwerken innerhalb der Fertigung immer weiter zunimmt. Der Trend zu durchgängigen IT-Systemen und zur Vernetzung umfasst dabei alle Bereiche der Produktion.
Schewe (Phoenix Contact): Mit Einführung der Ethernet-basierten Automatisierungssysteme wie Profinet oder Ethernet IP ist der Bedarf an IP-Adressen in Netzwerken der Automatisierungstechnik sprunghaft angestiegen. Waren bei klassischen Feldbuslösungen nur wenige IP-Adressen für vertikal vernetzte Feldgeräte wie Steuerungen oder Industrie-PCs erforderlich, sind bei Ethernet-basierten Automatisierungssystemen IP-Adressen für alle angeschlossenen Feldgeräte zu parametrieren. Dies schafft gleichzeitig Spielraum für neue Anlagenkonzepte, bei denen Feldgeräte Informationen zum technischen Prozess einfach und ohne Mehrkosten der Leitebene oder anderen Anlagenteilen zur Verfügung stellen können. So lassen sich Produktivität, Energiemanagement und Verfügbarkeit von Anlagen weiter steigern.
Schiffer (Rockwell Automation): In der Praxis sollten die 16,8 Millionen „privaten“ IPv4-Adressen im Bereich 10.x.y.z für Produktionsstätten und auch ganze Unternehmen ausreichen, solange man NAT (Network Address Translation) zwischen dem Produktionsbereich und dem Internet einführt, natürlich zusätzlich zu Sicherungsmaßnahmen. Für Nicht-Automatisierungsgeräte, z.B. Tablet-PCs, bedeutet NAT aber eine unnötige Komplexität, so dass IPv6 die Vorzugslösung sein wird. Eine weitere Motivation zum Einsatz von IPv6 wird der Wunsch sein, auf nur eine IP-Technologie für alle Geräte zu standardisieren.
elektro Automation: IPv6 als Technologie ermöglicht zahlreiche zusätzliche Funktionalitäten. Welcher Anwendernutzen lässt sich erreichen? Worin liegen die Vorteile gegenüber IPv4?
Kröger (Endress+Hauser): Der wesentliche Vorteil von IPv6 gegenüber IPv4 liegt natürlich in dem deutlich größeren Adressbereich. Zwar wird nicht jeder Mensch auf dieser Welt einen Internetzugang nutzen können, aber die Möglichkeiten der weltweiten Vernetzung sind sehr vielfältig geworden. Die größere Datenmenge zur Adressierung bietet außerdem mehr Möglichkeiten zur Strukturierung der Adressen. Beispielsweise ist eine Gliederung der Netzwerkteilnehmer in differenziertere Gruppen oder Hierarchien möglich. Dadurch kann wesentlich zielgerichteter kommuniziert werden. Der Datenverkehr und zum Beispiel auch der Routing-Aufwand werden optimiert. In der Prozessindustrie ist die Neigung, das lokale Netz mit dem Internet zu verbinden, allerdings noch nicht so stark ausgeprägt. Solange die Vernetzung lokal beschränkt bleibt, werden sich die Vorteile durch IPv6 nicht auswirken.
Plonka (Siemens): IPv6 bedeutet einen großen Schritt hin zu einer End-to-End-Kommunikation. Vor allem im Gegensatz zu Tunnel-Technologien oder anderen Ansätzen wie Teredo wird der Aufwand deutlich reduziert. Wir können − mit anderen Worten − viel genauer Informationen aus der Fertigung abrufen und mehr Komponenten gezielter über das Netzwerk steuern. Zudem ergeben sich große Vorteile indem die Strukturierung und das Management von Netzwerken sowie das Routing einfacher werden. Man darf auch nicht übersehen, dass etwa Betriebssysteme immer stärker auf IPv6 ausgerichtet werden. Der Wechsel zu IPv6 wird kommen.
Schewe (Phoenix Contact): Der wesentliche Vorteil von IPv6 liegt in der schier unbegrenzt zur Verfügung stehenden Anzahl von IP-Adressen, die eine starre Vergabe von IP-Netzbereichen überflüssig macht. Jedes Gerät kann anhand einer Link-lokalen Adresse, die aus einem Präfix und der individuellen Geräte-MAC besteht, angesprochen und in Betrieb genommen werden. Darüber hinaus ist eine heute erforderliche Anpassung der privaten IPv4-Adressen über Network Address Translation (NAT) an das überlagerte Intra- oder Internet nicht mehr zwingend erforderlich. Mobile IPv6 vereinfacht die Inbetriebnahme von vorkonfigurierten Anlagen im Netzwerk des Betreibers.
Schiffer (Rockwell Automation): Es gibt eine Reihe von Bereichen, in denen IPv6 Probleme beseitigt, die aus dem Erbe von IPv4 stammen, zum Beispiel bei der automatischen Vergabe der IP-Adresse, Geräteerkennung, zustandsloser automatischer Konfiguration von IPv6-Adressen, dem Multicast-Management und der Vermeidung von Broadcasts. Keines dieser Details führt zu grundlegenden Änderungen, aber der Übergang zu IPv6 wird den Einsatz der Netzwerke vereinfachen.
elektro Automation: Unterstützen Sie schon heute IPv6 bei Geräten, Systemen und Software oder wann wird das kommen? Können die Infrastrukturen nebeneinander existieren?
Kröger (Endress+Hauser): Für eine Koexistenz gibt es verschiedene Möglichkeiten. Derzeit ist sie auch nötig, da die meisten in Betrieb befindlichen Systeme noch auf IPv4 basieren. So können beispielsweise IPv6-Nachrichten in IPv4 „verpackt“ werden (Tunneling). In vielen Endanwender-Geräten, wie etwa der eigenen Netzwerkkarte im PC, ist bereits IPv6 parallel zur alten Version 4 implementiert. Unsere derzeit verfügbaren Geräte für die Prozessindustrie mit Ethernet-Schnittstelle unterstützen IPv4.
Plonka (Siemens): Ja, Siemens bietet bereits eine Reihe von Produkten, die IPv6 unterstützen. Dazu zählen beispielsweise der Simatic NET OPC Server, der IWLAN-Controller aus unserer Scalance-Produktfamilie sowie der Kommunikationsprozessor Simatic CP1543-1 für die neuen Simatic-S7-1500-Steuerungen. IPv4- und IPv6-Infrastrukturen können nebeneinander im Netzwerk existieren.
Schewe (Phoenix Contact): Wie in der Office-Welt hängt die Verbreitung von IPv6 in der Automatisierungstechnik von der Verfügbarkeit von Systemen ab, die in beiden Welten (IPv4 und IPv6) betrieben und zwischen diesen Welten vermitteln können. Zukünftige Plattformen für Steuerungen oder andere leistungsstarke Endgeräte werden hinsichtlich der eingesetzten TCP/IP-Stacks den dazu erforderlichen Dual-Stack-Betrieb beherrschen. Die im Ethernet-Umfeld benötigte Netzwerkinfrastruktur ist heute bereits in der Lage, IPv6-Datenverkehr zu transportieren. Im Bereich der ressourcenbeschränkten Feldgeräte wird IPv6 in der Breite auf absehbare Zeit noch nicht eingesetzt werden können. Ein Parallelbetrieb von IPv4 und IPv6 ist aus diesem Grund vorzusehen.
Schiffer (Rockwell Automation): Die Switche von Rockwell Automation aus den Gerätefamilien Stratix 8000 und 5700 sind bereits für IPv6 vorbereitet; sie wurden für die Unterstützung von hybriden IPv4/IPv6-Systemen entwickelt. Alle Endgeräte von Rockwell Automation verwenden IPv4 entsprechend den Spezifikationen der ODVA. Diese müssen erweitert werden, bevor IPv6 für Ethernet/IP verwendet werden kann.
elektro Automation: Was müssen Automatisierungs-Anbieter und -Anwender tun, um die IPv6-Technologie optimal nutzen zu können? Welche Voraussetzungen müssen bezüglich der Infrastrukturen geschaffen werden?
Kröger (Endress+Hauser): Zur optimalen Nutzung ist eine Implementation von IPv6 in sämtlichen kommunizierenden Komponenten notwendig. Idealerweise werden auch die nationalen und internationalen Datenverbindungen mit der entsprechenden Hardware ausgerüstet. Wichtiger als die Implementation von IPv6 ist jedoch die physikalische Schnittstelle, wie zum Beispiel Ethernet, um die Nutzung einer möglichen Vernetzung über die lokalen Systeme hinaus überhaupt zu realisieren. Erforderlich ist eine intensive und gut strukturierte Zusammenarbeit der Unternehmen, um notwendige branchenspezifische, aber auch branchenübergreifende Themen zu standardisieren.
Plonka (Siemens): Um eine IPv6-Technologie auch während einer Übergangszeit optimal nutzen zu können, sollten die eingesetzten Netzwerkkomponenten über eine Dual-Stack-Architektur verfügen. Diese stellt sowohl eine Kommunikation via IPv4 oder auch über IPv6 sicher und deckt so beide Welten ab. Bei der Netzinfrastruktur können die Switche (Layer 2) die Informationen weiter reichen, Router müssen im Zuge einer Umstellung auf IPv6 aufgerüstet oder ausgetauscht werden.
Schewe (Phoenix Contact): Anbieter und Anwender von Automatisierungsprodukten müssen sich mit der IPv6-Technologie beschäftigen, um die Möglichkeiten und Herausforderungen zu verstehen und geeignete Produktlasten ableiten zu können. Eine gute Möglichkeit dazu stellen laufende Forschungsvorhaben dar, in denen erste Produkte prototypisch für die IPv6-Welt entstehen und evaluiert werden. Neben der Feldebene muss allerdings auch die Netzwerkinfrastruktur der Leit- und Unternehmensnetzwerke in Bezug auf eine parallele Anwendung von IPv4 und IPv6 fit gemacht werden. Die Anwender können so Erfahrungen und Wünsche aus der Office-Welt in die Feldebene einbringen. Notwendige Entwicklungsschritte zur Umsetzung von Industrie 4.0 werden in diesem Zusammenhang auch IPv6 in industriellen Applikationen zum Durchbruch verhelfen.
Schiffer (Rockwell Automation): Anwender sollten schon jetzt damit beginnen, Infrastrukturkomponenten (Hubs, Gateways, Switche und Router) zu spezifizieren, die IPv6 unterstützen. Zwar benötigen heutige Anwendungen nur IPv4, aber man muss davon ausgehen, dass IPv6 noch während der Lebensdauer der Systeme zum Einsatz kommt, insbesondere auf Veranlassung von Regierungen, unter anderem von Seiten der USA und China.

INFO TIPP
Allgemeine Informationen zum Thema bietet die Seite:
https://de.wikipedia.org/wiki/IPv6
Siemens bietet ein White Paper zum Internet-Standard IPv6:
Ein Beitrag der ODVA:

DIE EXPERTEN
  • Arne Kröger, Marketingmanager Prozessautomatisierung, Endress+Hauser, Weil am Rhein
  • Reiner Plonka, Systemmanager Simatic Net, Siemens AG Industry Automation, Nürnberg (ohne Bild)
  • Frank Schewe, Mitarbeiter des Geschäftsbereichs I/O and Networks, Phoenix Contact Electronics, Bad Pyrmont
  • Viktor Schiffer, Engineering Manager, Rockwell Automation, Haan
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