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Eine Brücke von der virtuellen zur realen Welt

Round-Table-Gespräch zu Industrie 4.0: Engineering-Abläufe sind entscheidend
Eine Brücke von der virtuellen zur realen Welt

Industrie 4.0 zielt auf die Produktionstechnik von morgen. Im Round-Table-Gespräch der develop3 wurde klar, dass das Thema von der Allgegenwärtigkeit der Informationen lebt sowie dem Schulterschluss von IT- und Automatisierungstechnik. Eine der Herausforderungen wird sein, den noch existierenden Bruch zwischen virtueller und realer Welt zu überwinden – unter Nutzung digitaler Entwicklungsdaten.

Das Round-Table- Gespräch wurde von den beiden develop3-Redakteuren Andreas Gees und Michael Corban geleitet

develop3: Die Komplexität von Produkten und Fertigungsverfahren beziehungsweise -abläufen nimmt zu, gleichzeitig sollen kundenindividuelle Wünsche bis zur Losgröße Eins realisierbar sein. Welche Ansätze bietet Industrie 4.0, um diese Problematik in den Griff zu bekommen?
Bent (Phoenix Contact): Um Komplexität zu beherrschen, muss diese heruntergebrochen werden – autonome Teilsysteme, die für sich selbst Entscheidungen treffen können und mit ihrer Umgebung interagieren, sind dabei ein wesentliches Element. Dies führt zu einem intelligenten Produktionsumfeld, in dem Betriebsmittel sowie Logistik- und Geschäftsprozesse über eine ausreichende Teilintelligenz verfügen, um sich sinnvoll miteinander zu vernetzen – und entsprechend den Bedürfnissen konfigurieren. Man wird darüber hinaus auch den Begriff des ‚intelligenten‘ oder smarten Produkts genereller fassen müssen: Eine wesentliche Zäsur wird sein, dass das Produkt künftig über seinen gesamten Lebenszyklus Teil der Prozesse des Gesamtsystems wird.
develop3: Welche Auswirkungen hat dies?
Bent (Phoenix Contact): Schon mit der digitalen Entwicklung eines Produkts im CAD-System werden bereits Daten erzeugt, die sich dazu verwenden lassen, die entsprechenden Produktionsmittel zu entwickeln, zu simulieren und zu testen. Auf diese Weise wird parallel zur physischen Welt die Datenwelt immer weiter ausgebaut. Ein komplexeres Produkt wird also eine Art digitales Gedächtnis haben, das über den Lebenszyklus hinweg Zugriff auf eine Reihe von Informationen bietet. Abstrakt gesprochen finden wir diese Daten dann in der Cloud.
Hoppe (Beckhoff Automation): Industrie 4.0 beschreibt keine revolutionäre, ganz andere Art der Produktionstechnik – sondern das Grundwesen dieses Ansatzes besteht in der Allgegenwärtigkeit von Informationen. In klassischen Systemen wird ja in strikten Produktionshierarchien von oben nach unten geplant und ausgeführt. Fehlende Informationen aus den untersten Produktionsebenen bringen darin das übergeordnete Planungssystem in Schwierigkeiten. Die Anwendung der Smart-Technologien – und damit der Informationsaustausch zwischen den beteiligten Systemen – soll es also ermöglichen, situativ zu reagieren. Der Einsatz smarter Produkte ist dabei nur ein mögliches Szenario. Entscheidend wird die Einbettung in bestehende Systeme sein. Es wird also eine Evolution geben hin zu intelligenteren und damit autonomeren Teilsystemen – das kann eine Vorrichtung innerhalb einer Maschine sein, die Maschine selbst oder auch eine ganze Fertigungslinie oder Halle. In allen diesen Einheiten müssen wir diese Smart-Technologien denken und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Nicht zuletzt können wir auf diese Weise auch ressourcenschonender produzieren.
develop3: Speziell aus der Logistik kennen wir ja bereits erste Umsetzungen unter dem Stichwort ‚Internet der Dinge‘, beispielsweise Förderanlagen, in denen Shuttles Wegstrecken selbst erkunden und mit Hilfe von Agentensystemen sich selbst organisieren. In Industrie-4.0-Konzepten entsteht also die ‚Intelligenz‘ aus der Vernetzung aller Teilsysteme und dem Zugriff auf möglichst viele Informationen…
Zühlke (DFKI): …die jetzt online verfügbar und damit nutzbar sind – das ist genau der Punkt. Ein Stau in einer Fertigungslinie lässt sich auf diese Weise zunächst einmal umfahren, ohne direkt zu Folgeproblemen zu führen. Entscheidend ist dabei, dass wir die insgesamt wachsende Komplexität wieder reduzieren können – denn mit komplexen Prozessen kann der Mensch schlecht umgehen. In der Automatisierung führt dies allerdings dazu, dass sich zwar die Komplexität für den Anwender reduziert, die für die Automatisierungsingenieure aber steigt. Beides müssen wir zusammenbringen, in dem wir weniger komplexe Subsysteme schaffen.
Gutekunst (Balluff): Man kann es auch umdrehen: Gerade bezüglich des Zugriffs auf möglichst viele Informationen müssen wir über neue Konzepte nachdenken – wie Industrie 4.0. Die Datenflut bei uns im Unternehmen ist bereits jetzt so immens groß geworden, dass wir Wege suchen, sie zu kanalisieren und wertschöpfend zu nutzen. Das fängt bei der Sensorik an – ein entscheidender Baustein ist an dieser Stelle die Identifikation, insbesondere per RFID – und reicht über die interpretativen Systeme bis hin zu fabriks- und unternehmensübergreifenden Konzepten. Mithin zu der Frage, wie wir selbst unsere Lieferanten steuern – beziehungsweise unser Kunde uns als Lieferant. Daraus können ganz neue Geschäftsmodelle entstehen.
develop3: Um diese neuen Modelle zu realisieren, ist dann aber wie erwähnt die Reduzierung der Komplexität der Subsysteme ein Schlüssel zur erfolgreichen Nutzung von Industrie 4.0. Und um den Anwender zu entlasten, trifft das vor allem die Entwickler von Automatisierungssystemen. In welcher Weise kann hier der ebenfalls bereits genannte Zugriff auf die CAD-Daten von Nutzen sein?
Hoppe (Beckhoff Automation): Die Daten im CAD-System werden heute noch zu wenig genutzt. Klassisch ist etwa das Beispiel Hochregallager: Vor dessen Bau wird der Durchsatz simuliert und auf dieser Basis die Investitionsentscheidung gefällt. Nicht abgeleitet wird daraus aber die Bewegungssteuerung für die einzelnen Bediengeräte, obwohl die dynamischen Abläufe ja bereits vorgedacht sind. Vielmehr erhält derzeit noch ein Automatisierer die Aufgabe, in einem ganz anderen Engineering-Tool die Bewegungssteuerung für einzelne Shuttles zu programmieren. Dieser Bruch ist unsinnig – sinnvoller wäre es, dafür ebenfalls die Daten aus der Simulation zu nutzen. Wir haben dafür den Begriff ‚Zero Engineering‘ geprägt, über den sich auch bestimmte Engineering-Abläufe automatisieren lassen. Die brillante Idee von Industrie 4.0 ist also, die Vernetzung nicht nur auf den Hersteller einer Ware oder die Produktionstechnik zu beschränken, sondern auch die bislang sehr stark gegeneinander abgegrenzten Domänen des Engineerings zu verschmelzen.
Sandhöfner (B&R): Ziel muss es sein, Produkte auch in der Losgröße Eins fertigen zu können. Das gelingt heute nur in Teilbereichen, weil die Produktionsanlagen dafür nicht ausgelegt sind. Diese müssen also flexibler gestaltet werden – nicht nur hinsichtlich kleinerer Losgrößen, sondern insbesondere auch für Losgröße Eins. Passen wir dazu unsere Engineering-Abläufe nicht an, schlägt sich das aber in einer Explosion des Steuerungscodes nieder – was wir uns nicht leisten können, weil das sowohl Entwicklungszeit als auch -kosten nach oben treibt. Gefragt sind damit intelligente Konzepte, in denen sich bestehender Code wiederverwenden lässt und in denen Schnittstellen zwischen den Entwicklungstools das Schreiben von Code vereinfachen und beschleunigen. Erste Schritte sind ja bereits gemacht, Informationen aus Simulationssystemen heraus direkt in echtzeitfähigen Code zu verwandeln. Das reduziert dann wiederum die Komplexität nicht nur der Maschine selbst, sondern auch die ihrer Entstehung.
develop3: Ist das dann nicht die Wiederkehr des CIM-Gedankens, des Computer Integrated Manufacturings?
Sandhöfner (B&R): Ja und nein, denn bei der CIM-Diskussion vor 20 Jahren ging man von einer zentralen Steuerung aus, die bereits vorgedacht und entsprechend strukturiert ist. Außer Acht gelassen wurde dabei, dass Störungen auftreten können und hinsichtlich der Losgröße sprach man eher von hohen Stückzahlen. Diese Aspekte greift aber Industrie 4.0 auf, was nicht zuletzt hinsichtlich der Offenheit der beteiligten Systeme wesentlich höhere Anforderungen stellt.
Bent (Phoenix Contact): CIM ist damals gescheitert, weil die technischen Mittel nicht bereitstanden und die Komplexität zu hoch war. Entstanden ist daraus aber auch unsere heutige Automatisierungspyramide mit ihrer hierarchischen Struktur. Industrie 4.0 verlässt diese Struktur komplett – es gibt keine Hierarchie in einer Industrie-4.0-Automatisierungs- oder -Kommunikationswelt, was wiederum eine Grundvoraussetzung für den Aufbau flexibler und adaptiver Systeme ist. Sobald eine Hierarchie vorliegt, muss ich ein System vordenken – und sobald ich das mache, komme ich nicht über die Grenzen meines heutigen Wissens hinaus. Ich kann nur das planen, was ich heute weiß – und genau diese Beschränkung will Industrie 4.0 ja überspringen. Wir wollen ja zu Systemen kommen, die zukünftig etwas leisten können, was wir heute noch nicht vorgedacht haben. So entstehen Produktionssysteme, die in der Lage sein werden, sich an zukünftige, heute noch unbekannte Anforderungen – auch in Bezug auf die zu produzierenden Produkte und Varianten – zu adaptieren.
Gutekunst (Balluff): Was bei CIM fehlte, war der Rückwärtspfad – konnte auf einer unteren Ebene etwas nicht gelöst werden, konnte es die Steuerung darüber auch nicht. Es fehlte der wichtige Aspekt der Autonomie, der Industrie-4.0-Konzepte kennzeichnet.
Hoppe (Beckhoff Automation): Der CIM-Gedanke hat allerdings dazu geführt, dass in der Werkzeugmaschinenindustrie bereits eine integrierte homogene Umgebung existiert. Basierend auf den CAD-Daten eines Produktes kann über den daraus abgeleiteten NC-Datensatz dessen Entstehung vollautomatisch ablaufen. Diesen Gedanken müssen wir in der Industrie 4.0 aufnehmen und weiterentwickeln.
develop3: Was muss dazu mit Blick etwa auf Montageprozesse getan werden?
Hoppe (Beckhoff Automation): Wir müssen eine Metasprache entwickeln – eine Taxonomie und Ontologie beziehungsweise eine Begriffswelt –, die es erlaubt, die Herstellung eines Produktes so zu beschreiben, dass sich diese Informationen weltweit an vielen verschiedenen Maschinen nutzen lassen. Das gibt es in dieser Form noch nicht, auch wenn es in Teilbereichen beziehungsweise Branchen bereits Industrie-4.0-Inseln gibt. Dann lässt sich auch die Stückzahl Eins realisieren, ohne dass man dazu zunächst einen komplexen Engineering-Prozess aufsetzen muss.
develop3: Damit nähern wir uns dann aber wieder dem eingangs erwähnten ‚smarten‘ Produkt, dem ich über die digitale Entwicklung analog zum NC-Code bereits sämtliche Informationen mitgebe, wie es zu fertigen ist…
Hoppe (Beckhoff Automation): …was aber nur funktioniert, wenn die Fertigungsmaschinen beziehungsweise -anlagen das auch verstehen! An welcher Stelle die Fertigungshinweise liegen, spielt keine Rolle – wichtig ist, dass der Produktionsvorgang so beschrieben ist, dass die jeweils vorhandenen Maschinen und Anlagen daraus selbstständig und autonom die notwendigen Schritte extrahieren können. Derzeit gibt es dazu keine einheitliche Taxonomie – im Rahmen der Umsetzung von Industrie 4.0 müssen wir diese aber entwickeln.
Sandhöfner (B&R): Das Ziel von Industrie 4.0 beinhaltet auf diese Weise die Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Wegen – zwischen Prozessen unterschiedlicher Anbieter – wählen zu können. Das setzt einheitliche Daten voraus, die innerhalb der gesamten Prozesskette verstanden werden.
Zühlke (DFKI): Hier fehlen uns in der Tat derzeit sowohl eine Referenzarchitektur als auch wissenschaftliche Begrifflichkeiten für viele Dinge. Rede ich beispielsweise mit Kollegen aus der Informatik, finden sich dort teilweise völlig andere Begrifflichkeiten als in der Produktionstechnik. Hier sind wir alle gefordert, zusammenzukommen, wobei wir erst am Anfang stehen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind hier noch extrem viele Aufgaben zu lösen, was meiner Meinung nach auch noch nicht in zwei oder drei Jahren abgeschlossen ist – wir reden hier über eine Vision.
develop3: Was sind denn die nächsten Schritte, die vorrangig angegangen werden müssen?
Zühlke (DFKI): Die neue Welt wird nur funktionieren, wenn wir Standards schaffen! Nur so werden die Komponenten einer Produktionsumgebung wie Lego-Bausteine per Plug&Play zueinander passen. Ein zweiter, wesentlicher Aspekt betrifft hinsichtlich der erforderlichen offenen Netzwerke das Thema Sicherheit – im Englischen die Security. Denn die beteiligten Unternehmen werden sich natürlich fragen, ob sie ihre Informationen in solch einen Legostein legen sollen und was damit passiert. Nur auf diese Weise lässt sich allerdings eine Plug&Play-Fertigung modular aufbauen. Überwunden werden muss auch der bereits thematisierte Bruch bei der Verbindung von virtueller und realer Welt. Unsere Kollegen im Bereich des Product Lifecycle Managements nutzen ja bereits wunderbare Objektwelten, in denen sich Parameter verändern lassen. Geht es aber an den realen Betrieb, muss wieder eine SPS programmiert werden – das darf nicht sein!
Bent (Phoenix Contact): Automatisierungs- und IKT-Welt müssen eine gemeinsame Sprache finden – das ist die große Chance, die hinter Industrie 4.0 steckt. Denn industriebranchenübergreifend ist hier ja ein Konsens entstanden, eine gemeinsame Vision, die keiner alleine umsetzen kann. Aufgabe der von Bitkom, VDMA und ZVEI gegründeten Plattform Industrie 4.0 ist es deshalb, gemeinsam an der Umsetzung zu arbeiten.
Santos (Balluff): Nur so werden wir auch in der Lage sein, die vielen, bereits heute gespeicherten Informationen sinnvoll zu nutzen. Denn bislang greifen wir Vergleichbares nur in Teilbereichen beziehungsweise punktuell bezogen auf bestimmte Aufgabenstellungen auf. Industrie 4.0 muss uns dabei helfen, all diese Informationen sinnvoll zu nutzen – im Sinne der eingangs erwähnten Wertschöpfungsnetzwerke. Und an der Unternehmensgrenze darf diese Vernetzung nicht aufhören.
develop3: Der Diskussionsstoff rund um das Thema Industrie 4.0 wird uns also so schnell nicht ausgehen, die weitere Entwicklung bleibt spannend. Wir danken allen Teilnehmern für dieses Round-Table-Gespräch.

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