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Prof. Reinhard Hüttl zur Forschung bei KMU und Industrie 4.0

„Das kommt einer kopernikanischen Wende in den Fabrikhallen gleich“
Prof. Reinhard Hüttl, acatech-Präsident, zur Forschung bei KMU und Industrie 4.0

Prof. Reinhard Hüttl, acatech-Präsident, zur Forschung bei KMU und Industrie 4.0
Reinhard F. Hüttl bei der Norddeutschen Geothermietagung am 7. Oktober 2015 in Hannover. Foto: Jan Blachura
Verlassen sich Unternehmen zu sehr auf bewährte Muster, gefährden sie ihre Marktposition, meint Prof. Reinhard Hüttl, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech). Für Forschung und Entwicklung spiele dabei aber die Digitalisierung – Stichwort „Industrie 4.0“ – eine wichtige Rolle, erläutert er im Gespräch mit Wolfgang Hess, Redaktionsdirektor und Chefredakteur von bild der wissenschaft.

elektro AUTOMATION: Professor Hüttl, zur Jahreswende 2015/16 ist der sogenannte Innovationsindikator erstmals von acatech gemeinsam mit dem BDI mitherausgegeben worden. Weshalb?

Hüttl: Die Entwicklung von Innovationen kostet Geld, ist aber auch eine zentrale Quelle nachhaltigen Wohlstands. Ein Kernelement unserer Akademie ist, dass alle Mitglieder Wissenschaftler sind und dass im Senat etwa 100 technologisch orientierte Unternehmen vertreten sind. Insofern haben wir einen guten Zugang zu Forschung und Entwicklung in Unternehmen, die etwa zwei Drittel der deutschen Ausgaben für Forschung und Entwicklung von aktuell 83 Milliarden Euro bestreiten. Deswegen war der Innovationsindikator für uns schon immer wichtig. Die Chance, dass acatech sich daran beteiligt und wir uns inhaltlich einbringen können, haben wir gerne genutzt. Die Innovationslandschaft Deutschland international einzuordnen, sehen wir als wichtige Aufgabe.

elektro AUTOMATION: Die aktuelle Studie beschreibt akribisch die Rolle der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) im Innovationssystem. Zwei Kernaussagen stechen hervor: Einmal hat kein anderes Land der Welt so viele „Hidden Champions“ wie Deutschland – Weltmarktführer in einem definierten Sektor. Und andererseits dokumentieren viele deutsche KMU eher Forschungslethargie. Sie erzielen – so die Studie: „Innovationserfolge ohne formale Forschung und Entwicklung“. Wie interpretieren Sie das?
Hüttl: Forschung bei klein- und mittelständischen Unternehmen lässt sich nicht allein an den formal ausgewiesenen Unternehmens-Ausgaben für Forschung und Entwicklung messen. Unsere Typologie von innovativen KMU zeigt: Viele sind ohne eine eigene Forschungsabteilung innovativ. Sie entwickeln Neuheiten im Zusammenspiel kleiner Teams, weil sie besonders nah am Kunden sind. Es findet jedoch eine radikale Veränderung statt, bei der die Digitalisierung eine zentrale Rolle spielt – Stichwort „Industrie 4.0“. Wenn Unternehmen sich zu sehr auf bewährte Muster verlassen, gefährden sie ihre Marktposition. Dieser Veränderungsdruck ist bereits für Großunternehmen eine Herausforderung – umso mehr für Mittelständler. Zugleich entstehen Chancen für neue Unternehmen, denken Sie etwa an die Berliner Startup-Szene. Zentrale Herausforderungen in Deutschland sind deshalb unsere relativ niedrige Gründungsdynamik, die Wachstumsbedingungen für Startups und die Beteiligung von KMU an Forschungs- und Entwicklungskooperationen – denn diese scheitert oft schon an hohen bürokratischen Hürden.
 
elektro AUTOMATION: Seit einigen Jahren ist Industrie 4.0 das beherrschende Thema bei der zukünftigen Ausrichtung der deutschen Wirtschaft. Was trägt acatech dazu bei?
Hüttl: Unsere Akademie hat den Begriff geprägt und ihn anlässlich der Hannover Messe 2011 zusammen mit anderen in die große Öffentlichkeit gebracht. Maßgeblichen Anteil hat dabei mein Co-Präsident Henning Kagermann. Mit dem Begriff wollen wir auf die grundsätzliche Veränderung in der Industrieproduktion hinweisen. Die 4 steht dabei für die vierte industrielle Revolution – nach der Dampfmaschine, der Elektrifizierung und Fließbandarbeit, der Mikroelektronik und Robotik folgt nun die Vernetzung und Individualisierung der Produktion und Dienstleistungen.
 
elektro AUTOMATION: Was ist an Industrie 4.0 anderes als beim Computer Integrated Manufacturing (CIM)?
Hüttl: CIM lief auf eine hochautomatisierte, zentral gesteuerte Produktion hinaus. Industrie 4.0 steht für Vernetzung und Individualisierung, was einer kopernikanischen Wende in den Fabrikhallen gleichkommt. Noch bestimmt der Produktionsprozess das Produkt, das millionenfach und gleichartig hergestellt wird. In der Industrie 4.0 dagegen bestimmt das einzelne Produktionsstück seinen individuellen Produktionsprozess. Industrie 4.0 ebnet deshalb den Widerspruch zwischen billigen Massenprodukten und teuren Einzelstücken ein. Sie ermöglicht die individuelle Produktion zu den Preisen der Massenfertigung. Dabei geht es um mehr als die Einführung neuer Technologien. Industrie 4.0 wird auch die Arbeit verändern, weshalb wir bei dem Thema eng mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten. Wir brauchen unter anderem neue Ansätze im Bildungssystem, um die Menschen für die künftige Arbeitswelt zu qualifizieren. Industrie 4.0 ist eine Chance für alternde Gesellschaften, wie wir sie in Deutschland haben. Aber natürlich müssen wir die Belegschaften mitnehmen. Weiterbildung wird deshalb immer wichtiger: Auch Universitäten und Hochschulen müssen Programme für Mitarbeiter entwickeln. acatech experimentiert derzeit mit solchen Angeboten und startete zur Hannover Messe einen Online-Kurs „Hands-on Industrie 4.0“.
 
elektro AUTOMATION: Gehen wir einmal davon aus, dass der Weg zur Umsetzung von Industrie 4.0 100 Kilometer lang ist. Welche Strecke haben wir dann bislang zurückgelegt? Was schätzen Sie?
Hüttl: Wir haben bisher wohl erst 15 Kilometer hinter uns. Sowohl bei der Robotik als auch bei der Künstlichen Intelligenz ist der Weg von der Forschung zur industriellen Umsetzung noch weit.
 
elektro AUTOMATION: Was will acatech in den nächsten Jahren erreichen?
Hüttl: acatech ist die von der Bundesrepublik Deutschland legitimierte Stimme der Technikwissenschaften im In- und Ausland unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. Unsere primäre Aufgabe ist die wissenschaftsbasierte, unabhängige Politikberatung. Wir organisieren unter anderem den Innovationsdialog der Bundesregierung. In Zukunft wollen wir uns noch deutlicher in den gesellschaftlichen Dialog einbringen. Wir wollen, dass Technik und Technologie zum weiteren Wohlergehen unserer Gesellschaft beitragen. Und dass die Menschen Technik als integralen Bestandteil unserer Kultur verstehen.
 
elektro AUTOMATION: Prof. Hüttl, vielen Dank für dieses Gespräch.

Interview: Wolfgang Hess, Redaktionsdirektor und Chefredakteur von bild der wissenschaft (bdw), die wie die elektro AUTOMATION in der Konradin Mediengruppe erscheint

Zur Person

info

Reinhard Hüttl ist seit acht Jahren Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech. Sie wurde 2008 gegründet und gehört zu den führenden der 22 Akademien für Technikwissenschaft in Europa. 1986 promovierte Hüttl (*1957) am Institut für Bodenkunde an der Universität in Freiburg im Breisgau und wurde Forschungsleiter des Bergbauunternehmens Kali und Salze AG. Nach wissenschaftlichen Stationen in Washington D.C., auf Hawaii, in Freiburg und Eberswalde wurde er 1993 auf den Lehrstuhl für Bodenschutz und Rekultivierung an der Brandenburgisch Technischen Universität Cottbus berufen. Seit 2007 ist er Wissenschaftlicher Vorstand des Helmholtz Zentrums Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum. Reinhard Hüttl wurde für seine wissenschaftlichen Verdienste vielfach ausgezeichnet und ist Mitglied bei einer Reihe internationaler Forschungsorganisationen.

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